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Worauf wartest Du (noch)?

Nach einer sehr lustigen, ruckeligen und mehr oder weniger schlaflosen Nacht sind wir am Sonntag ziemlich gerädert, aber bester Dinge in Venedig angekommen. Es fühlte sich ein bißchen an wie eine Klassenfahrt. Zum einen, weil wir uns schon so lange kennen, und zum anderen, weil der Schaffer mitteilte, daß sich das Nachbarabteil beschwert hatte, daß wir zu laut lachen würden.


Als wir in St. Lucia aus dem Zug stiegen, wurden wir von allerschönstem Sonnenschein empfangen und die schwere, warme Luft war vom Duft des Meeres getränkt.


Wir fuhren vier Stationen mit dem Wasserbus „Vaporetto“ und brauchten für das letzte Stück zu Fuß unverhältnismäßig lange, weil uns die geradezu surreale Schönheit der Gebäude und Kanäle immer wieder innehalten ließ, und uns deren imposanter Anblick teilweise Tränen in die Augen und eine Gänsehaut über den Körper jagte.


Unser Appartement war ein absolutes Schnäppchen und dabei so geschmack- und liebevoll eingerichtet, dass wir ganz kurz überlegt haben, alle zusammen nach Venedig auszuwandern, um hier einzuziehen.Wir müssten das dann nur noch Orsetta, der dieses Juwel direkt an der berühmten Seufzerbrücke gehört, erklären…


Hier, weit weg von zu Hause fällt mir wieder einmal auf, dass ich mich im Alltag längst daran gewöhnt habe, dass für mich kein Suchtsystem mehr existiert, aber auf Reisen immer wieder Erinnerungen an die Zeit in mir hochkommen, als mein Leben von der Alkoholsucht meines (Ex-) Partners bestimmt wurde. Möglicherweise, weil ohne ihn zu reisen nach wie vor noch etwas ungewohnt für mich ist.


Während unserer Beziehung bin ich nur alleine verreist, wenn es beruflich absolut erforderlich war.


Die toxische Mischung aus seiner, immer krankhafter werdenden Eifersucht, die ich damals für ein Zeichen seiner großen Liebe hielt und meinem ständigen Begleiter „Angst“, daß er, in und auch wegen meiner Abwesenheit trinken könnte, beziehungsweise was er alles anstellen, oder was ihm zustoßen konnte, hielten mich zurück.


Die wenig schönen Erfahrungen haben mich gelehrt, mich bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen, da teilweise eine Geburtstagseinladung, oder Verabredung mit meinen Freundinnen Anlass genug für ihn waren, sich mit Alkohol "abzuschießen" und bei meiner Rückkehr zu Hause teilweise in einem so schrecklichen Zustand war, dass es mir das einfach nicht mehr wert war. Einmal ließ er abends sogar die Kinder alleine, obwohl er mir versprochen hatte, zu Hause zu sein und sich zu kümmern, während ich auf dem Geburtstagsessen eines guten Freundes war. Er war extra aus Berlin angereist und ich dachte ich könnte es "wagen", für ein paar Stündchen seiner Einladung im kleinsten Kreis zu folgen.


Ich beschloß irgendwann, diesem Drama die Isolation und das Stillegen meines sozialen Lebens vorzuziehen.


Stattdessen lieber andere, dringend notwendige, längst überfällige und vor allem, weitaus selbstwirksamere Konsequenzen zu ziehen, brachte ich damals noch nicht fertig. Zu sehr klammerte ich mich noch verzweifelt an die Hoffnung unseres gemeinsamen "happy ends", wofür ich meine Selbstaufgabe als vielversprechende Grundlage sah.


Da die Krankheit Alkoholismus jederzeit zuschlagen kann und aufgrund der Unberechenbarkeit, mit der die Rückfälle unser Leben dominiert haben, wurde es für mich immer schwerer, wenigstens die schönen Momente ohne den Hintergedanken genießen zu können, dass sie wahrscheinlich nur ein kurzes Verfallsdatum haben.


Als Co - Abhängiger ist man genau aus diesem Grund (fast) immer in Habachtstellung und niemals wirklich unbeschwert im Hier und Jetzt.


Man verliert das Kostbarste, was man hat: sich selber, seinen inneren Frieden und den gegenwärtigen Moment.


Ich fragte mich oft, ob die Ruhe wieder einmal nichts weiter, als die Ruhe vor dem Sturm war.


Heute kann ich mich wieder „frei bewegen“, ohne mir Sorgen machen zu müssen, was in meiner Abwesenheit zu Hause alles passieren könnte... das genieße ich fast noch mehr, als die wunderschönste Kulisse einer Reise.


Das wurde wieder möglich, als ich damit aufhörte, an hübsch verpackten zukünftigen Wunschvorstellungen festzuhalten und stattdessen wieder mein Glück der Gegenwart in die Hand nahm.


Worauf wartest Du (noch)?


„Vertrauen bedeutet den ersten Schritt zu tun, auch wenn Du die Treppe noch nicht ganz sehen kannst.“ M. L. King


Während ich hier in unserem Appartement in Venedig am Laptop sitze, die morgendliche Ruhe zum Schreiben nutze, die Kanäle und Gassen menschenleer sind, die Klimaanlage bereits auf Hochtouren läuft und die anderen noch schlafen, erinnere ich mich an die vielen Momente der Unsicherheit, die ich in den Urlauben mit einem alkoholkranken Partner erlebt habe.

Momente, in denen ich geahnt hatte, dass er heimlich etwas getrunken hat, oder befürchtet hatte, er könne, seitdem er, extra still und leise aus meinem Blickfeld verschwunden war, er sich regelrecht davon geschlichen hatte, zur Flasche greifen.


Es war auf Reisen nie so viel, dass er betrunken war, oder es ihm ein Fremder angemerkt hätte, aber ich konnte es riechen und an seinem Blick sehen und wusste ganz genau, was jeder Schluck in naher Zukunft bedeuten, welche Lawine er lostreten würde, wenn wir wieder zu Hause in unserem Alltag waren.


Ein Alkoholkranker kann nicht kontrolliert trinken. Das wusste ich und er (eigentlich) auch.


Was wir allerdings auch beide ganz genau wußten, daß und vor allem wie, man eine Beziehung, eine Familie, … ein Leben, dass dabei ist an Alkoholismus zu zerbrechen, „nach außen“ notdürftig aufrecht erhält. Ich hatte es perfektioniert zu funktionieren, ihm Ausreden auf den Leib zu schneidern und die Scherben möglichst unauffällig zusammen zu kehren. Er war ein Meister darin, mich durch Schuldgefühle, Liebesschwüre, phantastische Pläne und große Worte, die meist nicht mehr als Schall und Rauch waren, in der Dauerschleife zu halten...


...in der sich hoffen, enttäuscht werden, Dramen, (immer heftiger eskalierende) Streitereien, Blackouts, Unfälle, ebenso große wie leere Versprechen, verzeihen, hoffen,... ENDLOS wiederholten, und in der es erstaunlich lange möglich war, von außen betrachtet, Teil einer vermeintlich heilen Welt in Perfektion zu sein.


Während die, hinter der künstlichen Fassade, schmerzhafte und unglückliche Realität Schluck für Schluck zu meiner neuen „Normalität“ wurde, entwickelte ich als Co - Abhängige Strategien, mit denen ich versuchte, mich in diesem zerstörerischen Suchtsystem so gut es geht zu arrangieren.


Doch nimmt man als Betroffener die Wahrheit nicht an, findet keine Umkehr statt und ist der Alkoholkranke nicht bereit, mit aller Kraft vor dem Alkohol zu kapitulieren und seiner Nüchternheit die oberste Priorität zu schenken, ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis ALLES, wie ein windiges Kartenhaus in sich zusammenfällt.


Wie auch bei uns.


Heute kommt mir all das wie ein anderes Leben vor, das ich vor sehr langer Zeit geführt habe, obwohl es nicht sehr weit zurück liegt.


Ich bin glücklich, ich bedaure nicht was war und wünsche mir auch nicht mehr, es sei anders gekommen. Ich ist wie es ist, und ich bin wo ich bin.


Und das ist gut so.




„Es ist nicht das Erleben von Heute, das die Menschen in den Wahnsinn treibt.

Es ist vielmehr die Reue über etwas, was gestern geschehen ist, und die Furcht vor dem,

was das Morgen enthüllen mag."


Golden Day / Robert Jones Burdette




Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia





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