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Im Suchtsystem gefangen.

Ganz abgesehen von den individuellen Umständen ist aus meiner persönlichen Erfahrungen das heimtückischste für den Co - Abhängigen die Unberechenbarkeit, mit der die Krankheit zuschlägt. Ich wusste nicht mehr, was mich erwartet wenn ich nach Hause kam und ich wusste es genau so wenig, wenn ich seinen Schlüssel im Schloß hörte.


Das hatte zur Folge, daß ich Besuch und Einladungen bei uns und auch auswärts weitestgehend vermied. Es war mir nicht einmal mehr möglich einen Fernsehabend auf dem Sofa entspannt zu geniessen, wenn mein damaliger Partner nicht da war und ich mich nicht vergewissern konnte, ob "er" in einem guten Zustand war. Ein harmloser Mädelsabend beim Italiener wurde für mich zur nervlichen Zerreißprobe und irgendwann fragte ich mich, ob es mir das wert ist und sagte immer öfter unter irgendeinem Vorwand ab.


Ich konnte nicht einmal sicher sein, ob er heimlich trinken würde, wenn er zum rauchen in den Garten ging, er den Müll rausbrachte, ich eingeschlafen war, oder wie sich der Tag, selbst nach einem guten gemeinsamen Start am Morgen entwickeln würde. Auszumachen, sich nachmittags direkt auf dem Schulfest zu treffen bewirkte, daß ich den ganzen Tag über nervös und angespannt war.


Denn jeden Tag war alles möglich. Er konnte gut, schlecht oder dramatisch werden.


Waren wir gemeinsam unterwegs, hatte ich „ihn“ die ganze Zeit im Blick und wurde, sobald er den Raum verließ, um vielleicht auch nur auf die Toilette zu gehen, nervös. Ich konnte mich auf nichts mehr uneingeschränkt konzentrieren.


Vorfreude wurde zu einem Fremdwort für mich. Sie existierte in unserem Leben nicht mehr.


Mein Partner, seine Probleme und seine Krankheit nahmen immer mehr Raum ein und wurden zu einer Art Epizentrum eines Karussells, um das sich alles unermüdlich drehte. Meine Gedanken und meine Aufmerksamkeit waren beinahe 24/7 bei ihm: ich versuchte mir mehrmals täglich einen Eindruck über seinen Zustand zu verschaffen, rief ihn zwischendurch unter Vorwänden an, um zu checken, ob er nüchtern, oder seine aktuelle Nüchternheit (wieder einmal) gefährdet ist. Das hatte zur Folge, daß ich permanent angespannt und unsicher war. Ich war irgendwann kaum noch im Stande, die schönen Momente zu genießen, da ich „gelernt“ hatte, daß sie nur ein kurzes Verfallsdatum haben.


Ich konnte auch dem Frieden, nach all seinen schlimmen Rückfällen nicht mehr trauen und habe mich insgeheim immer gefragt, ob die Ruhe wieder einmal nichts weiter, als Die Ruhe vor dem Sturm ist.


Trotzdem habe ich versucht so zu tun, als sei ich unbeschwert und fröhlich, als ginge es mir gut. Ich fühlte mich verantwortlich wie es ihm geht und er machte mich tatsächlich auch sehr oft dafür verantwortlich. Selbst wenn ich so ruhig wie nur irgend möglich ansprach, daß ich das Gefühl habe, er habe wieder getrunken, ich sagte daß ich das Bier/den Wein/den Schnaps riechen konnte, fragte was denn der Auslöser gewesen sei, oder wie ich ihn unterstützen könne, schossen seine verbalen Salven der Vorwürfe und Schuldzuweisungen in der Sekunde auf mich ein, während er vehement leugnete, was eigentlich offensichtlich war.


War sein (betrunkener) Zustand nicht mehr zu leugnen, oder hielt er die leere Schnapsflasche noch in der Hand, gab er auch mir die Schuld für sein „Elend“.


Es ging niemals um seine Krankheit, seinen Rückfall, seine Unaufrichtigkeit, oder die teilweise recht fatalen Folgen seines Trinkens, sondern darum, daß er die Verantwortung für sein Verhalten komplett ausblendete, indem er mich mit Schuldzuweisungen überhäufte, bis ich aufgab und am Ende seine Wahrheit siegte.


Ich kann mir zwischenmenschlich und emotional kaum etwas Anstrengenderes vorstellen. Ich war erschöpft, verletzt, verzweifelt und traurig. Eigentlich hätte ich eine große Schulter zum Anlehnen gebraucht und die Möglichkeit Schwäche zu zeigen. Aber ich konnte nach den ganzen Dramen, nächtlichen Notarzteinsätzen und Streitereien nicht einmal durchatmen, bevor es direkt nahtlos weiterging. Ich habe einfach funktioniert und versucht alles am Laufen zu halten. Haben sich nach einem Rückfall die Wogen langsam wieder geglättet, bemühte ich mich umso mehr, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, allen Ärger von "ihm" fernzuhalten, ihn aufzubauen und mich stets optimistisch und stark zu geben. Ich wollte auf keinen Fall riskieren, daß das Ganze wieder kippt und habe versucht ihm etwas auf dem Silbertablett zu servieren, das ich bereits selber verloren hatte. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt schon längst die Notbremse ziehen und aus diesem kranken System aussteigen müssen.


Aber wir standen erst am Anfang einer halsbrecherischenTalfahrt.


Das Verrückte ist, daß unser Unterbewusstsein lediglich auf das Überleben programmiert ist. Und ganz egal, wie schmerzhaft und unglücklich unsere Realität ist, ist sie für uns immerhin gewohntes Terrain, in dem wir uns auskennen, überlebt haben und es demnach (hoffentlich) auch in Zukunft tun werden. Ob wir dabei glücklich sind oder nicht, ist unserem Unterbewusstsein ziemlich egal und es tut alles dafür, uns so viel Angst vor eventuellen Veränderungen zu machen, daß wir als Konsequenz lieber weiterhin in unserem vertrauten Elend verharren.


Ich bin mir ganz sicher, hätte ich das alles nicht selber erlebt, sondern eine gute Freundin von mir, ich hätte wahrscheinlich an ihrem Verstand gezweifelt, sie geschüttelt und angeschrieen, wie sie nur so blöd sein kann, sich so etwas anzutun. Aber so ist es sicherlich mit vielen Dingen im Leben.


Manches muß man selber erlebt haben um es wirklich verstehen zu können. Und da mir das auch damals schon insgeheim bewußt war, erzählte ich selbst meinen engsten Vertrauten nur Fragmente der ganzen Wahrheit.


Ich wollte nicht, daß der Mann den ich damals noch so sehr liebte in einem falschen Licht gesehen wird. Ich wollte nicht hören, daß meine Bemühungen zwecklos sind und daß es so nicht mehr weitergehen konnte.


Also habe ich meine Rolle in verschiedenen Abstufungen einfach überall gespielt. Eigentlich hätte ich dafür einen Scheiß Oskar verdient!


Ich war wie eine Art Komplize, wie jemand der nur noch mit einer Maske durch die Welt läuft. Natürlich gab es etliche Gespräche mit Freundinnen und der Familie, natürlich wußten sie Bescheid, haben mich oft weinend erlebt, haben mich getröstet und mir zugehört, haben geholfen wo sie konnten und teilweise auch alles stehen und liegen gelassen, wenn es wieder einmal brannte.


Aber dennoch habe ich ganz viel vor ihnen verborgen.


Ich hatte ja im Prinzip kein anderes Thema mehr und so lange ich mich zusammenreißen konnte, tat ich mein Möglichstes, um meine Vertrauten nicht überzustrapazieren und sie nicht gegen den Mann, den ich heiraten wollte, sobald seine Nüchternheit absehbar stabil war, aufzubringen. Ich wollte mir ja auf keinen Fall die Tür zu unserem Happy End dadurch zuschlagen, daß alle Menschen, die mir wichtig sind, anfingen ihn zu hassen. Das heißt, ich isolierte mich sogar in gewisser Weise von meinem "innen circle".


Und je mehr ich mich isolierte, um so mehr konzentrierte ich mich auf "ihn".


Doch wenn man anfängt sich zu verbiegen, Kompromisse zu machen, die mehr als faul sind, seine Werte zu verraten, sich ungerecht behandeln zu lassen und seine Bedürfnisse immer selbstverständlicher zu übergehen, hat das zur Folge, daß man sich selber und das Vertrauen in seine Intuition verliert. Gleichzeitig schleppt man einen immer größer und schwerer werdenden Brocken an toxischen Gefühlen mit sich herum. Ich bin davon überzeugt, daß das jeden Menschen auf Dauer krank macht. Zumindest war es bei mir so. Es ging mir weder physisch noch psychisch gut. Irgendwann war ich latent wütend, traurig und erschöpft, doch ich hatte eine Rolle zu spielen, von der es keine Auszeit mehr gab. Anstatt meine wahren Bedürfnisse mitzuteilen, versuchte ich mich stark und unermüdlich zu geben. Ich war in dem Glauben die Zügel an mich genommen zu haben, und alles zu lenken, doch in Wahrheit hatte ich die Verantwortung längst abgegeben. Die Verantwortung für mein Leben, und die Verantwortung für mein Glück.


Während ich mich aufopferte, hatte ich eine Opferrolle eingenommen, ohne es zu merken. Ich habe irgendwann beschlossen mich und alles was mich ausmacht aufzugeben und bin der Angst ab diesem Moment bedingungslos gefolgt.


Ich lief wie auf rohen Eiern durch unser, von seiner Sucht dominiertes Leben.


Ich fühlte mich dafür verantwortlich, daß es "ihm" gut ging, und er keinen Rückfall hatte. Es war ähnlich, wie bei einer Bergtour mit einem Kind. Man zieht ihm geeignete Kleidung an, trägt den Sonnenschutz auf, erinnert es daran noch einmal auf das Klo zu gehen, packt für alle Fälle die Regenjacke und Pflaster ein, kümmert sich um den Proviant und wenn es dann an das Laufen geht, versucht man das Kind stets bei Laune zu halten, es für den Aufstieg zu motivieren. Man verspricht bei der nächsten Kurve ein Gummibärchen, streichelt motivierend über den Kopf, erzählt Geschichten und malt das Erreichen der Hütte in den allerschönsten Farben aus.


Ich hätte mir schon damals eingestehen müssen, daß unsere Beziehung ziemlich schnell ins Ungleichgewicht geraten war, denn rückblickend waren wir im Alltag selten ein Team, sondern ich war diejenige, die versuchte es allen Recht zu machen, und "mein Partner" war wie ein fünftes Kind, das regelmäßig Mist baut.


Mir war damals noch nicht klar, wo ich da hineingeraten bin, aber ich spürte seine Labilität, seine große Hilflosigkeit und die extrem negative, manipulative Energie aus seinem Umfeld.


Somit lud ich mir immer mehr freiwillig auf die Schultern, versuchte auch noch die tonnenschweren Rucksäcke der anderen zu schleppen, obwohl ich den Inhalt meines eigenen kaum tragen konnte. Ich wollte unsere Liebe, jetzt wo ich sie endlich gefunden hatte, um keinen Preis der Welt verlieren.


Ich wollte "ihn" um keinen Preis eines Tages endgültig an den Alkohol verlieren.


Ich war bereit alles, was in meiner Macht stand, für unsere Beziehung zu tun und mit allen Mitteln für sie zu kämpfen. Je mehr mir dämmerte wie verworren alles war, umso mehr strengte ich mich an zu verhindern, daß unser großer Traum, für den wir soviel riskiert hatten, zerplatzte. Doch leider wurde während unseres Zusammenlebens ziemlich schnell immer offensichtlicher, daß "dieser Mann", der nach außen so stark schien, ein massives Problem hat. Und wenn mich heute Menschen fragen, woran man letztendlich erkennt, daß man es tatsächlich mit der Krankheit Alkoholismus zu tun hat, lautet meine Antwort:


Wenn Alkohol Probleme schafft, ist Alkohol das Problem.


Es gab unzählige Situationen, die mir brutal vor Augen geführt hatten, wie der Alkohol immer mehr die Kontrolle übernahm, während unser Leben und die Folgen des Trinkens immer mehr außer Kontrolle gerieten.


Ich erlebte eine nicht endende Aneinanderreihung verzweifelter Versuche "ihn" aus dem Verkehr zu ziehen, bis er wieder klar war und er (hoffentlich) einsah, daß er aufhören mußte zu trinken. Einmal fand ich ihn vormittags an seinem Arbeitsplatz so betrunken vor, daß er kaum noch laufen, beziehungsweise stehen konnte. Ich versuchte ihn mit aller Kraft dazu zu bewegen ins Auto zu steigen, um ihn nach Hause zu bringen. Ich wollte ihn unbedingt davon abhalten noch mehr zu trinken, wollte verhindern, daß ihn Gäste so sahen, oder er wirklich gravierenden Schaden anrichten konnte, indem er sich im schlimmsten Fall noch ans Steuer setzte.


Aber er wollte davon natürlich nichts wissen, wurde aggressiv und wehrte sich so vehement, daß sein Hemd, bei meinem Versuch ihn auf den Beifahrersitz meines Wagens zu schaffen, komplett zerriß, er stolperte und mit einem lauten dumpfen Knall, taumelnd gegen die Garagenwand prallte.


Bei einem anderen Versuch ihn mit der Hilfe eines Freundes in die Klinik zu bringen, versuchte er tatsächlich aus dem bereits fahrenden Auto zu springen.


Es gab Zustände, die mich veranlaßten den Notarzt zu rufen und wieder andere, die mich instinktiv selber handeln ließen, da ich befürchtete, er würde die Ankunft des Arztes nicht mehr erleben.


Wie eines Abends, als er scheinbar aufhörte zu atmen, er sich nicht mehr regte, ich seine Arm hob, ihn losließ, woraufhin seine Hand ungebremst auf die Bettkante knallte. Ohne Nachzudenken rammte ich meine geballten Fäuste sooft gegen sein Herz und versuchte mich in Mund zu Mund Beatmung, bis er wie ein Ertrinkender einen großen Luftzug nahm, und sich sein Brustkorb wieder erkennbar hob und senkte.


Einmal fand ich ihn im Garten, quer über der alten Holzbank liegend. Seine Augen waren geschlossen, und sein linker Arm hing auf den Boden. Ich sah, daß er atmete, aber er zeigte keine Regung als ich ihn ansprach. Die nackte Panik machte sich in mir breit, und ich war nicht sicher, ob ich einen Arzt rufen sollte. Ich war hin und hergerissen, wollte lediglich ein kleines Zeichen von ihm, daß es mir ermöglichte, mir ein Bild über seinen Zustand zu verschaffen, doch er sprach kein Wort, verzog keine Miene, ließ nicht durchblicken, ob er bei Bewusstsein war, oder nicht. Schließlich hielt ich ihm in meiner Verzweiflung mein Handy, mit unserem bedeutungsvollsten Lied ans Ohr.


Sein Atem wurde schneller und plötzlich liefen ihm Tränen über die Wangen.


Zunächst still und leise, bis er schließlich anfing laut zu schluchzen und sich bitterlich weinend an mich klammerte. Er sagte kaum verständlich: „Sie werden niemals begreifen, wie sehr ich Dich liebe.“




"Our intention creates our reality."

Dr. Wayne Dyer




Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia



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