T. war am Telefon nur noch mit Mühe und Not zu verstehen. Er war offensichtlich sehr betrunken und wollte zu mir kommen. Er rief mich nach einem vorangegangenen Streit einmal, zweimal, fünfmal, zwölfmal an, bis ich ausgeflippt bin. Ich schrie ins Telefon, daß er mich endlich in Ruhe lassen soll. Ich weinte, knallte ihm wenig schöne Dinge an den Kopf, meine Stimme überschlug sich, und ich sagte „Nein!“.
Zum ersten Mal überließ ich ihn in einem akuten Absturz seinem Schicksal und seiner Krankheit. Wir hatten solche Situationen in der Vergangenheit so oft erlebt, daß ich sie nicht mehr zählen konnte, und kein Nachgeben, verständnisvoll sein, mich kümmern, auf T. aufpassen, hat nachhaltig irgendetwas verändert. Er war niemals über erwähnenswert lange Zeiträume hundertprozentig trocken gewesen, und ich verstand mittlerweile, daß nur er den Weg zu seiner Nüchternheit einschlagen konnte.
Ich wußte, daß ich mich zerstörte, wenn ich mich weiterhin als Rädchen in diesem Suchtsystem drehte.
Ich wußte auch, daß ich keine Verantwortung für T. hatte, und ich im Außen nichts zu seiner Genesung beitragen konnte. Ich legte auf.
Ich war wütend, traurig und genervt. Doch es dauerte nicht lange, und mein schlechtes Gewissen klopfte an. Ich machte mir nun doch wieder Sorgen, wie T. in seinem Zustand den Rest der Nacht überstehen würde. Doch mein Wissen um die Krankheit verbot es mir, in meiner Co - Abhängigkeit „rückfällig“ zu werden. Ich hatte das Ganze schon tausend Mal erlebt, und bin daran fast zerbrochen, während T. weitergetrunken hat. Ich legte mich ins Bett und schlief verhältnismäßig gut. Am nächsten Morgen hielt ich es aber nicht länger aus, und versuchte ihn zu erreichen.
Mailbox. Jetzt war ich diejenige, die einmal, zweimal, fünfmal, zwölfmal anrief.
Und immer wieder nur die verdammte Mailbox! Jetzt stieg die Panik in mir hoch. T. war solange ich ihn kannte immer, immer, immer erreichbar gewesen. Er war, nachdem ich unser Zusammenleben aufgrund seiner Krankheit nicht mehr ertragen konnte, zu seiner Schwester gezogen. Trotz allem, waren wir emotional nach wie vor tief verbunden. Wir telefonierten und schrieben uns mehrmals täglich, und ich bekam jeden Morgen und jeden Abend einen Liebesschwur per WA. Ich fühlte mich mit dieser Lösung unverwundbar und auf sicherem Terrain, auch wenn ich beobachten konnte, wie sein Alkoholismus eine immer größere Kluft zwischen uns schaffte.
Ich mußte mich nicht endgültig und mit allen Konsequenzen von der Liebe meines Lebens trennen, und war dennoch von den zerstörerischen Auswirkungen seiner Krankheit erlöst. Meine Kräfte kehrten zurück, und ich konnte wieder Ordnung in mein Innen und mein Außen bringen. Alles Negative aus seinem Umfeld, inklusive ein paar sehr manipulativer und vom Ego getriebener, toxischer Menschen, rückte endlich in die notwendige Ferne, und ich verbrachte meine Zeit wieder ausschließlich mit Menschen die mir gut tun. Ich konnte meine Gedanken endlich wieder auf Positives und Kraftvolles fokussieren. Es schien mir den Umständen entsprechend perfekt. Mein Alltag war von der Co - Abhängigkeit befreit, und T. schien auf einem guten Weg zu sein. Ich konnte ihn weiterhin aus der Ferne lieben, und auf ein happy end hoffen.
Skeptischen Stimmen aus meinem Umfeld erklärte ich, daß ich absolut nichts zu befürchten hätte, da es mich ja nun nicht mehr existentiell erschüttern würde, wenn T. einen Rückfall hatte. Ich hatte mir alles schön zurecht gelegt, wie ich es brauchte, um mir mein Hintertürchen weiterhin offen zu halten.
Doch nun war er da. Der rückblickend schlimmste Tag meines Lebens. T. war verschwunden und sein Handy war aus. Seine Schwester wußte auch nicht wo er war. Und obwohl mir meine Ratio sagte, daß es nicht meine Schuld war, wenn ihm etwas zugeschossen sein sollte, durchlebte ich die nächsten zwölf Stunden die Hölle.
Der bloße Gedanke, daß er möglicherweise nicht mehr am Leben war, und unser letztes Gespräch im Streit endete, brachte mich fast um den Verstand.
Hätte ich noch dieses einzige Mal nachgegeben und ihn zu mir kommen lassen… hätte ich doch nicht so heftig reagiert… ihn nicht angeschrieen... "Hätte", "Wäre", Angst, Tränen und Wut auf mich, auf Ihn, den Alkohol im ständigen Wechsel... Ich setzte mich, stand wieder auf, lief durch das Wohnzimmer, wählte erneut seine Nummer, legte wieder auf, checkte WhatsApp, nahm tief Luft, brach in Tränen aus, setzte mich wieder... ich zermarterte mich mit Vorwürfen und konnte es keine Sekunde länger zu Hause aushalten. Ich schlüpfte in die erstbeste Jeans, schnappte mein Handy und machte mich auf die Suche nach ihm. Ich klapperte alle seine Lieblingsplätze ab.
Ohne Erfolg.
Ich wählte wieder und wieder seine Nummer, und hörte wieder und wieder die Ansage seiner Mailbox. Ich lauschte T.´s Stimme, die so vertraut, klar und nüchtern war, als sei nie etwas geschehen. Als sei alles in Ordnung.
Seine Schwester rief bei der Polizei und den nahegelegenen Krankenhäusern an, doch er war nirgendwo aufgetaucht. Schließlich machte ich mich mit ihrem Mann auf den Weg, und wir fuhren zu T.´s Hütte in den Bergen, checkten jeden Bahnhof, hielten nach seinem Fahrrad Ausschau...
Aber keine Spur von ihm.
Wir alle waren krank vor Sorge.
Abends gegen 19.00 Uhr, als seine Schwester gerade die Vermisstenanzeige aufgab, stand er plötzlich in der Tür. Er hatte einen schweren E - Bike Unfall gehabt, war nicht ansprechbar, von Schürfwunden übersät und hatte so viel Alkohol in der Blutbahn, daß ein anderer wahrscheinlich alleine daran gestorben wäre. Sie schafften ihn ins Bett, die Polizei rückte wieder ab, und sie gaben mir Bescheid. Als ich endlich die erlösende Nachricht erhielt, fiel ich in der Sekunde in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Eine meiner ältesten Freundinnen brachte es dann am nächsten Tag auf den Punkt. Sie sagte:
„In Wahrheit ist es scheißegal, ob T. bei Dir, seiner Schwester oder sonstwo wohnt.
Solange er trinkt, und immer wieder solche Dramen passieren, leidest Du und gehst daran kaputt. Es speilt keine Rolle, wo er seinen Rausch ausschläft.
Und Du weißt, ich mag ihn sehr, aber es kann so nicht mehr weitergehen."
Ich wußte, daß sie Recht hatte. Ich wußte, daß es ein riesengroßer Trugschluss war, daß mich dieses neue Wohnkonstrukt vor weiteren emotionalen Verletzungen bewahren konnte.
Ich wußte, daß man nicht nur ein bißchen co - abhängig sein kann.
Ich wußte, daß, falls er es jemals schaffen sollte seine Nüchternheit zu erlangen, noch
ein sehr, sehr weiter Weg vor ihm lag. Und ich wußte auch schon lange, daß er diesen Weg
ohne mich gehen mußte. Ich wußte, daß ich mein co - abhängiges Verhalten nicht komplett abstellen konnte, solange wir täglich telefonierten, uns Nachrichten schrieben, und uns regelmäßig trafen.
Ich gestand mir ein, daß ich den letzten essentiell wichtigsten Schritt noch nicht gegangen war,
und es jetzt höchste Zeit dafür war.
Wie viele solcher Katastrophen konnte, oder wollte ich noch ertragen? Wie oft würden sie noch glimpflich enden?
Wie viele Chancen wollte ich ihm noch geben? Wie lange wollte ich noch hoffen, warten und zusehen, wie die Jahre verstrichen? Eins nach dem anderen, ohne daß man heute einen guten Grund hätte daran zu glauben, daß es jemals anders sein würde. Rückblickend bin ich mir sicher, daß dieser schreckliche Tag ein Geschenk vom Universum an mich war, denn durch diese Erfahrung schaffte ich es, mich trotz meiner Liebe endgültig aus diesem zerstörerischen Suchtsystem zu befreien. Die allerletzte Leine der Verbindung zu kappen. Sollte eine Situation wie diese beim nächsten Mal anders enden, möchte ich nicht involviert sein, und mich den Rest meines Lebens mit Vorwürfen quälen, ob ich es hätte verhindern können.
Ich möchte nicht weiterhin in dem Korsett seiner Probleme eingezwängt sein, und darauf warten, bis es mir das nächste Mal den Boden unter den Füßen wegreisst.
Außerdem bin ich davon überzeugt, daß ich in diesem speziellen Fall keinen Einfluß auf ein Happy End habe, so sehr ich es mir für T., unabhängig von, uns wünsche.
Aber ich habe Einfluß auf mein Leben und das Hier und Jetzt.
Byebye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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