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Flashback.


Ich saß in meinem Auto und checkte kurz ein paar Mails, bevor ich weiterfahren wollte. Es war einer der wenigen Tage in letzter Zeit, an denen der strahlend blaue Himmel bereits früh morgens einen herrlich sonnigen Tag versprach, so daß ich das Haus in meinem luftigen Lieblingskleid und Sandalen verlassen konnte und mühelos, mit sommerlicher Leichtigkeit in den Tag gestartet bin.


Nun parkte ich im Schatten prächtiger Kastanienbäume und bekam, während ich meinen Blick auf der anderen Straßenseite über die herrliche Auslage eines Obsthändlers schweifen ließ, eine WhatsApp von meinem Liebsten, die mir sofort ein strahlendes Lächeln ins Gesicht zauberte.

Ich antwortete ihm und fischte, während ich auf „senden“ tippte, meine Maske aus der Handtasche, um noch schnell ein paar Aprikosen, Kirschen und Pfirsiche zu kaufen, die mich so unwiderstehlich angelacht hatten. Ich freute mich auf das frische Obst, über meine Beziehung, auf das morgige Wiedersehen mit meiner Freundin, die aus dem Urlaub zurück war, auf das Mittagessen mit den Jungs, über die Arbeit an meinem neuen Projekt und auf die nachmittäglichen Coachings mit meinen Klientinnen.


Als ich die Autotür geschlossen und meine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, sah ich einen Mann auf mich zukommen, wobei es „zu - wanken“, eigentlich besser trifft.

Er hatte einen entrückten, leicht orientierungslos wirkenden, wie leeren Blick, den ich nur allzu gut kenne und der, obwohl er mittlerweile nur noch Teil meiner Vergangenheit ist, vermochte, den diffusen wie vertrauten Gefühlscocktail aus Angst, Enttäuschung, Ohnmacht, Abscheu und Mitleid in mir hervorzurufen… nicht mehr hochkonzentriert wie zu den Zeiten meiner Co - Abhängigkeit, sondern stark verdünnt, aber nach wie vor unangenehm und extrem beklemmend.


Es war bereits später Vormittag und dieser Mann, vielleicht um die Dreizig Jahre alt, war in einem Maße betrunken, das fernab von Kontrolle, Spaß oder Genuß liegt.

Er sah nicht wie jemand aus, der eine lustige Party gefeiert und etwas zu viel getrunken hatte, sondern er wirkte regelrecht zerstört, gezeichnet, vergiftet und humpelte den Gehsteig entlang.

Ich kenne Verletzungen dieser Art, als Folge von betrunkenen Stürzen, oder Fahrradunfällen.


Seine Haut war knallrot und von einem glänzenden Film überzogen, seine Jeans und sein T - Shirt waren schmutzig und sahen nach Sturz, Ärger, oder ganz einfach nach Kontrollverlust aus.

Seine Haltung war geduckt und sein Zustand mehr als traurig. Ich spürte, wie mir bei seinem Anblick regelrecht der Atem stockte.


Ich fragte mich, ob, oder wer wohl auf ihn warten würde und die letzte Nacht vor Sorge kein Auge zugetan hatte… oder ob es vielleicht jemanden in seinem Leben gab, der sogar mehrere Tage zwischen Mailbox, Wut, Panik, Verzweiflung, Ohnmacht und Tränen auf den erlösenden Moment seiner Rückkehr hinfiebert.

Ich konnte es, wen auch immer es jetzt gerade emotional zeriß, mit - fühlen. Auf Knopfdruck.


Dieses ekelhafte erstickende Gefühl der Hilflosigkeit, der Verzweiflung und Erschöpfung rollte während der Beziehung zu einem Alkoholiker nur zu oft über mich wie ein riesengroßer Tsunami.

Du fragst Dich:


„warum?.. wann hört das alles endlich auf?... warum sitze ich an einem so wunderschönen Tag verheult und erschöpft auf dem Fußboden und finde den Ausgang aus diesem Drama nicht?… was war dieses Mal der Auslöser?... warum können wir nicht einfach glücklich sein?... WARUM?“


Und vor allem:


„Wie soll es jetzt weitergehen?“

Streitereien, Entschuldigungen, Diskussionen, Überreden, Wartelisten, Entgiftung,Therapie,… die wievielte? Klappe 2, 5, 6, 8?


Ich fragte mich, wie viele Schicksale mit an seinem hingen und ob sie es schaffen würden, die toxische Spirale der Sucht zu durchbrechen.


Mir war klar, daß so ein Zustand kein Resultat einer Nacht, sondern das einer Sucht war, die schon einiges an Fahrt aufgenommen hat.

Ich erinnerte mich, während ich mein Obst bezahlte und das Lächeln des freundlichen Verkäufers versuchte mit Maske zu erwidern daran, wie erleichtert ich immer gewesen war, wenn mein alkoholsüchtiger Partner nach einem Absturz wieder zu Hause und zu betrunken war, um sich noch weiter und schlimmer zu zerstören.


Ich redete mir in diesen Momenten absolut überzeugend ein, nun wieder die Kontrolle zu haben. Doch die Wahrheit ist, daß diese Kontrolle nur im Wunschdenken der co - abhängigen Angehörigen existiert.

Solange wir versuchen, die Sucht eines anderen Menschen zu kontrollieren, wird diese Sucht uns kontrolliert. Basta.

Erbarmungslos und ohne Rücksicht auf Verluste.


Solange wir unseren Fokus nicht zielführend ausrichten, werden wir uns selber selbstsabotierend konditionieren.

So hatte auch ich es mir, der Entwicklung seiner Sucht entsprechend zum Ziel gemacht, meinen Partner aus dem Verkehr zu ziehen, wenn er sich wieder einmal komplett im Rausch verloren hatte.


Ich ließ alles stehen und liegen und raste los, um ihn zu suchen, zu finden, zur Einsicht zu bringen, anzuflehen zur Vernunft zu kommen, ihm meine unerschütterliche Liebe zu beteuern, ihn von seinem nächsten Griff zur Flasche abzuhalten, oder davon, sich in Gefahr zu bringen.

Ich wollte, daß er mir folgt, damit ich die Lage wieder in den Griff bekommen konnte: für ihn, für mich, für uns.


Lag er dann endlich im Bett und war eingeschlafen, trat bei mir die heiß ersehnte Erleichterung ein. Ich hatte mein Zwischen - Ziel erreicht. Check.

Jetzt ging es darum zu verhindern, daß er wieder loszog. Meine einhundertprozentige Aufmerksamkeit gehörte ihm. Wie eigentlich immer. Ob er nüchtern, oder betrunken war, ob er weg war, oder schlafend im Bett lag.


Ich konnte ja nie wissen, was passierte, wenn ich nicht aufpasste. Also passte ich auf und zog ihn, wenn es nötig war, aus dem Verkehr, um Schlimmeres zu verhindern.

In dem Moment, wo ich dieses Ziel, enorm unter Strom stehend erreicht hatte, stellte sich, schon alleine, ob der enormen Anspannung, unter der ich aufgrund der unberechenbaren Situation stand, eine grenzenlose Erleichterung ein, die in bleierner Erschöpfung mündend, absolut keinen Raum für neue Blickwinkel zuließ.


Mein Akku war leer und die Herausforderung des Tages gemeistert.

Game over.

Ich hatte mein Ziel erreicht. Puh… Geschafft… was für ein Glück…

Nur was war das für eigentlich für ein Glück… und was war das für ein Ziel?

Wollte ich tatsächlich eine Beziehung führen, in der ich jeden Tag auf einer tickenden Zeitbombe saß, für deren Entschärfung ich im Notfall regelmäßig alles stehen und liegen lassen mußte? Wollte ich mich permanent für die Emotionen und Handlungen meines Partners verantwortlich fühlen, und alles und jeden, inklusive mich selber, in Konsequenz grandios vernachlässigen.


War es wirklich mein Ziel zu springen wenn er oder sein Zustand es verlangten?

Wollte ich mich damit zufrieden geben, auf ihn und seine Sucht zu reagieren und mich schuldig und verantwortlich fühlen, während er sich davor drückte Verantwortung zu übernehmen und stattdessen anderen Menschen, den Umständen oder MIR die „Schuld" für sein(en) Zustand/Scheitern/Rückfall/Lügen gab?


War DAS wirklich mein Lebens - Ziel? Wollte ich mich weiterhin zufrieden geben und zulassen, daß ich zusätzlich noch mit dem Raubbau an mir bezahlte?


Wofür?


War es tatsächlich erstrebenswert, unermüdlich in Selbstsabotage um einen anderen Menschen zu kreisen? War DAS Liebe, oder hört Liebe dort auf, wo chronisches Unglück, Manipulation, Respektlosigkeit, Unaufrichtigkeit, Unzuverlässigkeit und Abhängigkeit beginnen?

War das wirklich die Beziehung, die ich weiterhin führen wollte?


Waren Vertrauen, Augenhöhe, Ehrlichkeit, Respekt und Zuverlässigkeit tatsächlich für mich verhandelbar?

War mein Ziel immer wieder die Konsequenzen für sein Trinken zu tragen, oder zumindest mit-zutragen?


Ich erinnerte mich hier, zurück bei meinem Auto, im Schatten der großen Bäume stehend an einen Abend, an dem er volltrunken und völlig derangiert die Treppe herunter gepoltert kam, als ich gerade zu hoffen begann, daß bis zum nächsten Morgen endlich etwas Ruhe einkehren und er vielleicht halbwegs ansprechbar aufwachen würde.

Doch auf ein sehr großes Drama folgte lediglich eine sehr kleine Verschnaufpause. Ich flehte ihn an sich wieder hinzulegen, doch er mußte dringend "zur Arbeit" und lallte genervt:


„Dass mußt Du doch verstehen… komm schon… es ist alles bestens… jetzt mach Dir nicht immer Sorgen…“


Meinen Schmerz, der letzten 24 Stunden, bedingt durch SEINEN Absturz, konnte er perfekt ausblenden.


Er war schließlich jenseits von Gut und Böse. Ich war ein Schatten meiner selbst.

Das Spiel begann vor vorne: „gehen Sie zurück auf Los…“


Eines Tages hatte ich keine Lust mehr auf dieses Spiel. Ich ging nicht mehr zurück auf Los, sondern vorwärts in ein Leben mit neuen Zielen.

Anstatt loszulassen, neigen wir dazu, im entscheidenen Moment zu glorifizieren, wer oder was uns schon lange nicht mehr gut tut. Stattdessen wäre es hilfreich sich auf das zu fokussieren, was wir gewinnen können, wenn wir uns trauen würden, loszugehen.


Nähe und Abhängigkeit werden dabei leider häufig verwechselt. Was beide Zustände verbindet, ist ein Gefühl der Vertrautheit, auch wenn dem eine unschöne Realität zu Grunde liegt.


Wir kennen uns in der unglücklichen Beziehung, in dem kräftezehrenden Alltag aus, wissen ganz genau, was uns bestimmte Menschen oder Situationen abverlangen und reagieren und funktionieren irgendwann fast mechanisch. Und ganz gleich, wie tief wir schon in dieser emotionalen Sackgasse stecken, wie leer und ausgebrannt wir uns fühlen, ängstigt uns das Unbekannte häufig noch viel mehr, als unser reales Unglück.

Die Hoffnung, daß eines Tages alles wunderschön sein wird, klebt uns wie Kitt an unser reales Unglück, das Lichtjahre von unserer Wunschvorstellung entfernt ist.


Und auch wenn uns das Wasser bereits bis zum Hals steht, klammern wir uns unbeirrt an den Mast des sinkenden Schiffes, anstatt endlich loszulassen und zu schwimmen…

… zu einem neuen, einem wirklich attraktiven und von uns selber initiierbaren Ziel.

Nur noch auf den Zustand eines anderen Menschen zu reagieren, zuzulassen, daß er/sie über Nähe und Distanz herrscht und von demjenigen, der uns emotional verletzt zu erhoffen, daß er/sie uns auch wieder "verarztet", oder seinen Worten endlich nachhaltige Taten folgen läßt, ist alles andere als selbstwirksam.


Die Person, die wir unseren Selbstwert demontieren lassen, bekommt von uns auch noch die Macht, ihn auch wieder herzustellen: „Du weißt, daß ich das nicht so gemeint habe… ich liebe und brauche Dich doch!“

Hier haben wir es mit Abhängigkeit zu tun, die auf einem Fundament aus Angst, Manipulation, Unsicherheit und Ohnmacht steht.


Echte, gesunde Nähe steht hingegen auf einem Fundament aus Augenhöhe, Vertrauen, emotionaler Freiheit und Liebe.


Und da waren sie, meine neuen Ziele: Augenhöhe, Vertrauen, emotionale Freiheit und Liebe und ich hatte es geschafft, all das in mein Leben zurückzuholen, genau so, wie ich mich dort unter den Kastanien stehend, aus der Vergangenheit in meine reale Gegenwart zurückholte.

Ich freute mich über das herrliche Wetter, auf das Obst, das Mittagessen mit den Jungs, das Treffen mit meiner Freundin und die Coachings am Nachmittag. Mein Handy vibrierte und ich sah eine neue Mitteilung, die mir wieder ein Lächeln ins Gesicht zauberte.


Alé.


„Lerne loszulassen, das ist der Schlüssel zum Glück.“

Buddha




Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia




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