Je näher T.´s Heimkehr von seiner mehrwöchigen Therapie rückte, umso gemischter wurden meine Gefühle.
Die aktuelle Distanz brachte Stabilität in mein Leben, die nun wieder ins Wanken geraten konnte.
Ich freute mich so sehr auf ihn, aber mir schwante auch, daß die lang ersehnte Nüchternheit nicht nur Glückseligkeit, sondern auch eine große Umstellung und sehr viel Arbeit für uns bedeuten würde. Wir hatten uns nun schon so lange, wie mechanisch, als Rädchen in einem, sich gegenseitig bedingendem Suchtsystem gedreht, und waren in unseren Rollen so festgefahren, daß wir jetzt als Paar die Aufgabe hatten, uns neu zu erfinden. Wir mussten es schaffen, die ganzen alten Verletzungen, die Ängste, und das Misstrauen, das sich über die lange Zeit aufgebaut hatte, wieder los zu werden. Denn Du machst als Betroffener von Alkoholismus Erfahrungen, die Dich so stark prägen, und die so tief sitzen, daß sie Dir auch in guten Phasen auf Schritt und Tritt folgen, als seien sie Dein eigener Schatten. Die lang ersehnte Nüchternheit führte somit zur Ernüchterung der ganz anderen Art. Anstelle der, dem unkontrollierten Alkoholkonsum geschuldeten Dramen, Streitereien, und Problemen, trat nun zunächst eine gewisse Unsicherheit und Orientierungslosigkeit.
T. offenbarte mir, er hätte Bedenken, daß ich ihn, wenn er immer zu einhundert Prozent nüchtern sei, langweilig finden könnte. Er wirkte eher verunsichert als gestärkt, und kam mir vor wie ein Kind, daß zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad fahren soll.
Und natürlich hatte ich meine Befürchtungen, ob er den unzähligen „entweihten Plätzen“ des Trinkens im Hotel, seinem Arbeitsplatz, widerstehen konnte. Ich fragte mich, ob er wirklich schon soweit war, bei Stress und Problemen standhaft zu bleiben, und nicht zur Flasche zu greifen. Schließlich kehrte er in eine Umgebung zurück, in der der Alkohol allgegenwärtig, und in vergangenen Zeiten sein ständiger Begleiter war. Aber es mußte ja weitergehen, und so nahmen wir unseren gemeinsamen Alltag wieder in Angriff. T. begann zu arbeiten und suchte wöchentlich seinen Therapeuten, beziehungsweise eine Therapiegruppe auf.
Damals fiel mir zum ersten Mal bewußt auf, wie schwer es einem in unserer Gesellschaft gemacht wird keinen Alkohol zu trinken. Ich erinnere mich an sehr viele unangenehme Kommentare, wenn T. im Restaurant ein Spezi bestellte. Ein Kellner fragte ob er ein Mann oder eine Maus sei, ein anderer zwinkerte ihm süffisant zu und schlußfolgerte, daß er heute wohl an der Reihe sei zu fahren, oder es hieß ganz einfach er solle doch etwas „Gescheites“ bestellen, frei nach dem Motto: „Komm schon, ein Bierchen geht doch immer!“
Es ist in der Tat erschreckend, wie oft man sich regelrecht rechtfertigen muß, wenn man keinen Alkohol trinken möchte. Es scheint, als würde man manchen Menschen dadurch suspekt, fast als fühlten sie sich bedroht, als wolle man sie angreifen, ihnen ihren persönlichen Konsum streitig machen.
Sie erwarten geradezu eine Erklärung warum man keinen Alkohol trinken möchte. Nicht wenige fangen im nächsten Schritt an, Dich zu wenigstens einem Drink überreden zu wollen. Solche Situationen sind für einen alkoholkranken Menschen natürlich weitaus stressiger, als für jeden anderen. Ich spürte wie unangenehm T. es war, wenn seine Bestellung Grundsatzdiskussionen auslöste, und wir aufgrund einer Saftschorle, eine übertriebene Aufmerksamkeit an unseren Tisch zogen, die er ja eigentlich um alles in der Welt vermeiden wollte.
Es begann eine Zeit des Hoffens und des Zweifelns, denn auch wenn es wieder Phasen gab, die gut liefen, ließen auch die Rückfälle leider nicht allzu lange auf sich warten. Sie bahnten sich still und leise, aber dafür umso unaufhaltsamer ihren Weg...
Es gab nicht von heute auf morgen den Vollrausch, sondern etliche Momente in denen ich ahnte, daß T. getrunken hatte. Nicht so viel, daß es ihm ein Fremder angemerkt hätte, aber genug, daß ich die kleinen Veränderung an ihm wahrnahm.
Aber bevor es zum nächsten großen Crash kam, der nach dem ersten Schluck leider immer unausweichlich bevorstand, begann zunächst einmal das alt bekannte Versteckspiel. Ich registrierte seinen veränderten Blick, seine Introvertiertheit, und schließlich auch seine Fahne, aber meine Erfahrung sagte mir, daß es zwecklos war, T. darauf anzusprechen. Ich fürchtete seine Reaktion, denn der Alkoholiker ist in dem Moment, indem er trinkt, auf dem Ohr der Vernunft taub, und reagiert aggressiv, oder leugnet, sobald man das Thema anschneidet, er sich ertappt fühlt. Also fiel ich schneller als mir lieb war zurück in die alten Muster, wurde zunehmend ängstlicher, beobachtete T. ganz genau, und versuchte erneut, positiv und unterstützend von "Aussen" auf ihn einzuwirken. Aber was soll ich sagen? Es hat natürlich nichts bewirkt, denn T. hatte keine einzige der dunklen Ecken in seinem Inneren aufgeräumt, und er war immer noch nicht wirklich bereit, vor dem Alkohol zu kapitulieren.
Irgendwann stand ich wieder im Schlafzimmer und habe seine Tasche für den nächsten Entzug gepackt.
Es folgte der Einsatz des Medikaments Antabus, einem sogenannten Entwöhnungsmittel, das den Abbau von Alkohol hemmt. Das hat zur Folge, daß man nach der Einnahme, in Verbindung mit geringsten Mengen Alkohol, starke Unverträglichkeitsreaktionen zeigt, und es in Kombination mit zu viel Alkohol sogar zum Tod führen kann.
Damit T. seine Tabletten auch zuverlässig einnahm, war ich für deren Verabreichung zuständig. Diese Aufgabe war mir eine sehr große Lehre. Ich kapierte ziemlich schnell, daß auch dieser Hoffnungsanker nichts als Schall und Rauch war.
Denn es ist quasi unmöglich, einen Alkoholiker durch Kontrolle trocken zu bekommen, wenn er den Kampf gegen seine Krankheit nur gezwungenermaßen, nur alibimäßig aufgenommen hat, und seine Nüchternheit für ihn selber noch nicht die oberste Priorität hat.
Ich erlebte mit Antabus alle Varianten des Einfallsreichtums eines Trinkers, der an seinen Stoff will.
T. tauschte die Tabletten tatsächlich aus, oder tat nur so als ob er sie schluckte, um sie heimlich wieder auszuspucken. Als wir daraufhin auf wasserlösliche Pillen umstiegen, gab es das Schlupfloch das Haus zu verlassen, bevor ich ihm seinen „Anbaus - Drink“ überreichen konnte. In allerletzter Konsequenz trank er ganz einfach, obwohl er Antabus geschluckt hatte, und nahm die scheußlichen Nebenwirkungen in Kauf. Und selbst wenn sich der typische Hautausschlag, als nur eine Folge, dieser fatalen Kombination unübersehbar ausbreitete, leugnete T., daß Alkohol im Spiel war. Mehr noch, er drehte den Spieß wie immer ganz schnell um, und machte mir Vorwürfe, daß es kein Wunder sei, wenn es ihm schlecht ginge, da ich ihn ständig zu Unrecht verdächtigen, und an ihm herumnörgeln würde. Er tat dann so, als würde ich ihm jetzt auch noch seine „Allergie“ vorwerfen. Sobald er gesagt hatte was er los werden wollte, war das Gespräch für ihn beendet. Das ist eine sehr effektive Methode sein Gegenüber mundtot zu machen, und somit automatisch immer das letzte Wort zu haben.
Ebenso so groß wie die anfängliche Euphorie, T.´s Trinken mit Antabus endlich in den Griff zu bekommen, war die Ernüchterung über den ausbleibenden Erfolg dieser Maßnahme.
Völlig überraschend folgte dieser Phase eine Entscheidung, die T. still und leise getroffen hatte, und die mich erneut hoffen ließ! Er fasste den Entschluss, nur noch tagsüber im Hotel zu arbeiten, um auf diesem Weg endlich die hundertprozentige Nüchternheit zu erlangen. Das leuchtete ein, und ich war bei dem Gedanken, daß er ab sofort abends zu Hause war, anstatt sich um Parties, Hochzeiten oder Weihnachtsfeiern zu kümmern, an der Zapfenlage zu stehen, oder den Weinkellerbestand zu kontrollieren, mehr als erleichtert. Ich freute mich außerdem darüber, als Familie endlich einen geregelten Tagesablauf in Aussicht zu haben, und klammerte mich nun an diesen neuen Strohhalm.
Ich weiß nicht mehr, welcher der vielen Notarzteinsätze uns damals erschütterte, oder wo genau er umgekippt ist, aber das Projekt „nine to five“ scheiterte genau so kläglich wie alle anderen Versuche zuvor, und endete mit einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt...
... denn T. hatte es nach wir vor nicht geschafft, vom Hochmut in die Demut zu kommen. Er war immer noch nicht bereit sich einzugestehen, daß der Alkohol für ihn ein übermächtiger Gegner ist, vor dem er kapitulieren muß, sondern hatte insgeheim das Zeil, stärker als der Alkohol zu sein, und es zu schaffen, kontrolliert zu trinken. Dabei ignorierte er leider die Tatsche, daß genau das, für einen Alkoholiker unmöglich ist.
"So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past."
The Great Gatsby - F. Scott Fitzgerald
ByeBye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
Kommentarer