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Julia Maria Kessler

Die zwei Seiten...

Aktualisiert: 22. Okt. 2020


Letzte Woche erreichte mich folgende Nachricht:


„Liebe Julia, ich liebe Deine Kolumne und sie hilft mir sehr. Es wäre toll, wenn du auch mal das Dilemma des sich Trennens von dem guten Teil des Alkoholkranken thematisieren würdest. Es ist so schwer, daß man auch den nüchternen (tollen) Teil loslassen muß…“


Ich war für diese Anregung sehr dankbar, denn es stimmt, daß das sicherlich eine, wenn nicht sogar die größte Herausforderung für einen Co - Abhängigen ist.


Wäre der Alkoholkranke einfach nur ein Arsch, wäre es leicht. Oder zumindest leichter. Aber da gibt es meistens diese zwei Gesichter: den nüchternen, liebenswerten Menschen, dessen Humor, Geruch und Umarmung man so sehr liebt, aber auch den, in den er sich verwandelt, wenn er getrunken hat, oder der Suchtdruck einsetzt und Du dem sehnsüchtigen Griff zur Flasche im Weg stehst, Du unbequeme Fragen stellst, oder die traurige Wahrheit aussprichst.


Dann verwandelt sich Dr. Jekyll in Mister Hyde und es ist, als ob plötzlich ein völlig Fremder vor Dir stünde und Dir den Weg zu dem geliebten Menschen versperrt, der sich nun wieder vom Alkohol kontrolliert, bis zur Unkenntlichkeit verändert, Dich beleidigt, Deinen Selbstwert demontiert, mit aggressiver Manipulation und Unterstellungen arbeitet, Dir einredet, daß mit Dir etwas nicht stimmt, Dir Vorwürfe macht, oder sogar behauptet, daß Du Schuld daran hast, daß er getrunken hat.


Jetzt denkst Du vielleicht „ja schon, aber wenn er nicht trinkt, ist er der tollste, liebevollste, lustigste Mensch, den ich mir vorstellen kann.“


Das mag sein. Aber er trinkt und dann ist er es nicht mehr.


Wenn sich jetzt sofort die Stimme meldet, die beteuert, daß Eure Beziehung ohne die Alkoholsucht aber ganz wundervoll, wenn nicht sogar perfekt sein könnte, möchte ich ihr gerne erwidern: „Schon möglich. Aber sie ist es nicht, ganz egal, wie sehr Du Dir wünschst, es sei anders.“


Könnte, Hätte, wollte, sollte,… ändern nichts an den leeren Flaschen die Du findest, an den Lügen, die Du durchschaust, an der Fahne die Du riechst, an den Schmerzen die Du fühlst, oder an den dunklen Schatten, die die Alkoholsucht Deines Partners nicht nur unter Deine Augen, sondern auch über all Deine/Eure Lebensbereiche wirft. Sie ändern auch nichts an Deinen Ängsten, Deiner Scham und der Isolation, in die Du Dich längst verstrickt hast.


Irgendwann torkelt Dein Partner wieder tagsüber volltrunken herum, kann nicht zur Arbeit gehen, fährt das Auto gegen die Garage, schreit die Kinder an, wird gemein, verletzend, immer unzuverlässiger, unberechenbarer und zu einer tickenden Zeitbombe.


Früher oder später fliegt sie Dir um Dir Ohren.


Dann tut es ihm wieder leid und er verspricht Dir hoch und heilig, daß ab jetzt alles anders wird. Wirklich! Schließlich hat er den Alkohol eigentlich im Griff, aber in letzter Zeit war einfach alles zu viel. Das mußt Du doch verstehen.


Es lag an den Umständen, dem Streit mit der Schwiegermutter, er litt an den Schikanen des Chefs oder hatte aufgrund des finanziellen Engpass schlaflose Nächte.


Aber AB HEUTE wird es keinen Griff zur Flasche mehr geben. Versprochen! Hand auf´s Herz.


Außerdem liebt er Dich doch so sehr und kann es ohne Dich nicht schaffen.


Du bist doch die Schönste, die Klügste und die Allerbeste.


Jetzt tut er Dir wieder leid und Du fühlst Dich gebraucht. Dein Selbstwert, der noch kurz zuvor auf das Übelste demontiert wurde, erhält nun endlich die, von Dir so heiß ersehnten Streicheleinheiten.


Derselbe Mensch, der Dich gerade noch verbal verletzt hat, beginnt nun, Dich zu „verarzten“, die emotionalen Wunden, die er Dir zugefügt hat, wieder zu verbinden. Wie üblich. Du fühlst dich nicht nur gebraucht, verantwortlich und geliebt, sondern auch darin bestätigt, daß es sich lohnt weiterhin auf das Erscheinen dieser Schokoladenseite, sowie auf die Rückkehr der schönen Anfangszeit Eurer Beziehung zu warten.


Du möchtest nichts mehr, als Dein Glück weiterhin und unbeirrt an die Hoffnung zu knüpfen, daß Ihr doch noch Euer gemeinsamen Happy End erlebt.


Du schiebst die Zweifel, den Schmerz, die unzähligen Enttäuschungen, das zerstörte Vertrauen und die Fakten beiseite - ihm zuliebe - und Ihr macht weiter wie bisher.


Bis zum nächsten Rückfall.


Das Suchtsystem stabilisiert sich zunehmend. Ganz im Gegensatz zu Dir.


Der Zustand des permanent angespannt und gleichzeitig hoffnungslos erschöpft Seins fordert seinen Tribut. Und je ausgebrannter, verzweifelter, ratloser und emotional leerer Du Dich fühlst, umso mehr leidet Dein ohnehin in Mitleidenschaft gezogener Selbstwert und das Vertrauen in deine Intuition, was Dich immer unsichrerer und leichter manipulierbarer werden läßt. Der Teufelskreis ist perfekt wie zerstörerisch. Das wird immer offensichtlicher.


Nur wie läßt er sich durchbrechen?


Werde Dir darüber bewußt, daß man Probleme, um es mit Albert Einsteins Worten zu sagen, nicht auf dieselbe Weise lösen kann, wie sie entstanden sind.


Du brauchst neue Strategien, Denk- und Handlungsweisen!


Ein wichtiger Motor, um sich abgrenzen zu können ist eine gesunde Trennungsaggression. Versuche Deine Wut zuzulassen. Vorlagen werden Dir schließlich genügend geliefert. Doch Du bist es als

Co - Abhängige so sehr gewohnt, unter der Gürtellinie beleidigt, übergangen, manipuliert und mit verdrehten Tatsachen in die Ecke gedrängt zu werden, daß es sich schon irgendwie „normal“ für Dich anfühlt.


Aber das ist es nicht!


Nichts was Du tust, oder nicht tust, rechtfertigt diese Beleidigungen und manipulativen Spielchen, die eine gegenseitige Abhängigkeit erzeugen, die absolut kein Nährboden für eine erfüllte Beziehung auf Augenhöhe ist.


Sie wird auch keineswegs dazu beitragen, daß die Nüchternheit unter Eurem Dach einkehrt.


Versuche also, Dir Deine aktuelle Realität einzugestehen, anstatt das „eigentlich so tolle“ Verhalten Deines Partners zu glorifizieren und Dir Schuldgefühle einreden zu lassen.


Identifiziere Dich nicht weiterhin mit dem System und dem Schmerz, sondern erlaube Dir endlich, ihn und Eure Situation kritisch wahrzunehmen, ohne sein Verhalten ständig zu rechtfertigen oder zu bagatellisieren.


Hast Du Angst erkennen zu müssen, daß die Ideal - Vorstellung Deiner Beziehung nicht mehr als eine Illusion ist, die nur sehr wenig mit der Realität zu tun hat? Stelle Dich ihr in den Weg, anstatt ihr aus dem Weg zu gehen.


Habe den Mut Dir selber einzugestehen wie schlimm es

wirklich ist… lasse diesen Schmerz zu. Er wird Dir helfen,

Dich zu lösen.


Erkenne, daß Dir all das nicht gut tut… daß ER Dir in Wahrheit nicht gut tut. Ganz egal wie sehr Du Dir wünschst, es sei anders.


Ich weiß, daß es diese tolle Seite gibt. Aber es gibt sie (aktuell) leider nur in Verbindung mit der weniger tollen, die immer mehr Raum einnimmt. Du führst zwangsläufig eine Beziehung mit beiden und er führt einen Beziehung mit Dir und dem Alkohol.


Frage Dich, ob Du Deine kostbare Lebenszeit wirklich in einer Beziehung verbringen möchtest, in der Du glaubst, Du müsstest überangepasst sein, Deine Bedürfnisse wie selbstverständlich übergehen und Deinen Partner dauerhaft in den Mittelpunkt Deiner Wahrnehmung stellen, während Du verletzt, im Stich gelassen, belogen und enttäuscht wirst.


„Ja aber wenn er nüchtern ist, kann er so liebevoll und witzig sein.“


Das glaube ich Dir sofort. Aber wäre alles in allem in einer halbwegs gesunden Balance, ginge es Dir gut. Dann könntest Du Du selber sein, Dich geborgen fühlen, vertrauen und Dich auf ihn verlassen.


Aber Du kannst es nicht.


Versuche einmal Deine Beziehung von außen zu betrachten. Aus der Vogelperspektive. Stell Dir vor, ein Mensch, den Du sehr liebst, beispielsweise Deine Tochter oder Deine beste Freundin, würde sie führen. Was würdest Du ihr raten? Weiterhin an ihrem realen Unglück festzuhalten, weil die zukünftige Wunschvorstellung so hübsch verpackt ist? Würdest Du ihr sagen, daß die schönen Momente relativieren, was sie durchmacht…


… oder, daß der Preis aus Deiner Sicht zu hoch und ihre Lebens - Zeit zu kostbar ist.


Bemühe Dich eine erwachsene innere Haltung einzunehmen und Deinen Partner mit Abstand und Vernunft zu betrachten.


Nimm die Brille ab, durch die Du ihn und Deine, von seiner Sucht dominierte Welt schon so lange filterst. Was bleibt dann von Deiner glorifizierten Vorstellung tatsächlich noch übrig?


Was siehst Du jetzt?


Wen siehst Du?


Was tust Du alles, um trotz seiner Krankheit weiterhin mit ihm zusammen zu bleiben?


Was tut er dafür, Dich nicht zu verlieren?


Und was hat Deine Wahrnehmung seiner Person möglicherweise mit Deiner Selbstwahrnehmung zu tun?


Fühlst Du Dich selbstbewußt, selbstwirksam, oder abhängig von (seiner) Zuneigung und Bestätigung?


Versuche nun, die Anteile von Dir und Deinem Partner zu sortieren. Was trägst Du bei, daß Deine Situation ist, wie sie ist? An welcher Stelle, kannst Du das System durchbrechen, indem Du ab sofort versuchst von einem reaktiven in ein selbstaktives Handeln und Entscheiden zu kommen?


Möchtest Du dir weiterhin jeden Schuh anziehen, den er Dir hinschmeißt, zulassen daß Deine Grenzen überschritten werden, oder endlich anfangen, welche zu setzen?


Welchen Mangel, welche Ängste in Dir, vermag er so perfekt zu füllen, daß Du all das dafür in Kauf nimmst? Was gibt es für Dich anzusehen, anzunehmen und zu heilen? Welche selbstsabotierenden Glaubenssätze solltest Du endlich durch neue ersetzen?


„Ich schaffe es nicht alleine.“

„Ich muß funktionieren.“

„Ich bin schuld.“

„Ich bin (alleine) nicht genug.“


Gegen:


"Ich lasse los, wer oder was mir nicht gut tut."

"Ich traue meiner Intuition."

"Ich bin genug."

"Ich bin es wert."



Dich wieder, langsam aber sicher mit Dir selber zu verbinden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg aus dem Suchtsystem.


Frage Dich nun, was eigentlich seine Anteile sind, die Du bisher auf Deine Schultern geladen hast. Bist wirklich Du für sein Denken, Handeln und seine Emotionen verantwortlich, oder ist es an der Zeit, ihm diese Verantwortung zurückzugeben? An welcher Stelle projiziert er seine Enttäuschung, seinen Frust und die Konsequenzen seines Handelns auf Dich, um Dir Schuldgefühle einzureden und Dich zu verunsichern?


Stoppe diesen Mechanismus ganz bewußt, in dem Du ihm „sein Päckchen“ zurückgibst.


Versuche Dich wieder in den Mittelpunkt Deiner Wahrnehmung zu stellen, anstatt in die übliche Resignation zu verfallen, oder Dich, für den vermeintlichen Frieden für Dinge zu entschuldigen, die sich nicht richtig anfühlen. Gebe Deinen Gefühlen Raum, anstatt sie zu ignorieren und unter den Teppich zu kehren. Lerne Dich wieder zu spüren, anstatt ständig in Habachtstellung zu sein, was Deinen Partner stressen, überfordern, oder frustrieren könnte. Versuche damit aufzuhören, Erwartungen entsprechen zu wollen und Dich schuldig oder verantwortlich zu fühlen. Er ist krank. Das stimmt. Aber er ist auch erwachsen und trägt alleine die Verantwortung, mit dieser Krankheit umzugehen.


Ja es gibt diese tolle Seite. Aber es gibt auch Deine Verzweiflung, Deine Unsicherheit, die Tränen, die schlaflosen Nächte, die eskalierenden Streitereien, die Entzüge, die Rückfälle, die Lügen, das Misstrauen, die Isolation, Deine physischen und psychischen Begleiterscheinungen und die Kinder, die (still) mit - leiden.


Was wiegt am Ende des Tages schwerer? Die schönen Seiten, oder das Drama und der Schmerz?


Ich bin sicher, würde seine „tolle Seite“ tatsächlich nur ansatzweise überwiegen, würdest Du überhaupt nicht mit Dir hadern.


Ja, der Liebeskummer und die Angst vor einer möglichen Trennung als Konsequenz sind riesengroß. Aber sie sind ab einem gewissen Punkt auch eine Entscheidung. Glorifiziere ich im größten Elend und entscheidenden Moment die guten Eigenschaften eines Menschen, an dessen Seite ich immer mehr zum Schatten meiner Selbst werde und schiebe die traurigen und mehr als ernüchternden Fakten beiseite, indem ich mich in romantische Wunschvorstellungen flüchte? Streue ich mir selber Salz in die Wunden, indem ich mir Fotos aus glücklichen Zeiten ansehe, gemeinsame Lieder anhöre, all seine Liebesbriefe lese und ziehe mir, damit es richtig weh tut, noch einen Flasche Rotwein dazu rein… jetzt ist schließlich eh schon alles egal…


ODER


… entscheide ich mich ab einem gewissen Punkt der Wiederholung, der Wiederholung der Wiederholung ganz bewußt dafür, diese Illusion nicht weiterhin aufzublasen, sondern mich auf das zu fokussieren, was mir das Loslassen leichter macht:


die tatsächliche Version meiner Beziehung, meinen schrecklicher Zustand, sein so häufig absolut inakzeptables Verhalten und das Leben, das ich mir wieder zurückerobern möchte. Bleibe ich in der Opferrolle und gebe ihm oder der Krankheit die „Schuld“ an meinem Elend, oder treffe ich die Entscheidung etwas zu verändern, auch wenn es ein Weg ist, den ich wahrscheinlich alleine gehen muß und es bedeutet, daß ich die Verantwortung trage.


Setze ich alles daran, mir diesen Weg zu ebnen, oder beharre ich darauf, daß mein Glück unausweichlich an diesen einen Menschen und seine Nüchternheit gekoppelt ist, was im Umkehrschluß bedeuten würde, daß ich keinen Einfluß auf das Drehbuch meines (glücklichen) Lebens nehmen kann.


Wie unendlich deprimierend klingt für Dich dieser Gedanke? Möchtest Du ihn weiterhin glauben, oder ihn loslassen?


Das was wir, vor allem in herausfordernden Situationen über uns, das Leben, unsere Umstände und Möglichkeiten denken, ist eine Entscheidung, die wir treffen.


Ist das Ende einer unglücklichen Beziehung das Ende, oder der Anfang meines (wahren) Glücks? Bin ich lediglich ein Opfer, oder ein aktiver Gestalter meines Lebens und der Umstände. War alles umsonst, oder ist es ein Teil von mir und meiner Geschichte? Muß ich an einer schmerzhaften Erfahrung zwangsläufig zerbrechen, oder kann ich auch an ihr wachsen? Denke ich, ich müßte mich zufrieden geben, oder bin ich es mir wert, mehr wollen zu dürfen? Möchte ich weiterhin darin glauben, daß ich es alleine nicht schaffen kann, oder beweise ich mir das Gegenteil? Rede ich mir ein, schlechte Gesellschaft ist immer noch besser, als alleine zu sein? Sehe ich in Selbstsabotage eine Tugend, oder den Verrat an mir und meinem Leben?


Wo hört Liebe für mich auf? Dort, wo Manipulation beginnt und eine toxische Verbindung mit gegenseitiger Abhängigkeit entsteht?


Öffne die Fenster und lasse endlich wieder frische Luft herein.


„Self - care is how you take your power back.“



Ich stellte mir eines Tages folgende Fragen:


Bin ich bereit, weiterhin „nein“ zu mir zu sagen?


Ist das wirklich das Leben, das ich mit meinen Kindern leben und ihnen vorleben möchte?


Stehen seine guten Seiten und die immer spärlicher gesähten, schönen Momente mit kurzem Verfallsdatum wirklich im Verhältnis zum Rest unserer Realität?


Wie lange möchte ich noch warten ( dass endlich alles gut wird ) ?



Wir haben dieses eine Leben. Und es ist genau jetzt.



Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia











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