Mein zwanzig Jahre jüngerer Bruder hat mich, als wir uns letzte Woche nach einem wunderschönen, heißen Tag am See, einer großen, lustigen Grillrunde mit Lagerfeuer und Gitarren Session verabschiedet haben gefragt, wann eigentlich die beste Zeit meines Lebens war.
Ich fand das eine sehr schöne Frage, auf die ich allerdings nicht ad hoc eine Antwort parat hatte.
Während ich, barfuß im warmen Kies stehend, meinen Blick über die, mittlerweile fast Boot - und menschenleere Wasseroberfläche schweifen ließ und ich spürte, wie sich meine Stirn beim Nachdenken in Falten legte, stellte ich plötzlich fest, daß es tatsächlich keine Zeit in meinem Leben gibt, mit der ich gerne tauschen würde, oder der ich hinterher trauere.
Das bewußt Werden dieser Tatsache löste unverhofft einen unfassbaren Glücksmoment aus, da mir das erst in diesem Moment durch seine Frage wirklich klar wurde.
Nach einer kurzen Pause antwortete ich ihm: „Ich denke, die beste Zeit habe ich genau jetzt."
Nicht weil ich keine Baustellen, Sorgen, Wünsche, oder keine (noch) unerreichten Ziele mehr hätte, sondern weil mein Sinn, mein Urvertrauen, und die Qualität meines Umfelds so groß sind, wie nie zuvor. Ich genieße tatsächlich jeden Tag, auch wenn der Hausputz oder die Ablage ansteht und gerade nicht alles perfekt ist, es Schwierigkeiten oder Absagen gibt.
Mein Bruder grinste über das ganze Gesicht und sagte: „Das ist cool.“
Ich stimmte ihm zu und erwiderte fast etwas ungläubig: ja, das ist tatsächlich cool.“
Ich suche noch immer nach einem Verlag, der mein Buch veröffentlicht, bin geschieden und dabei, mit Mitte vierzig wieder von vorne anzufangen.
Als mir in Venedig am letzten Tag zuerst mein PIN an einem mainipulierten Fahrkartenautomat und danach gezielt mein Portemonnaie geklaut wurde, war ich selbstverständlich erst einmal in absoluter Panik. Als sich herausstellte, daß zum Zeitpunkt der Kartensperrung bereits ein vierstelliger Betrag von meinem Konto geräumt worden war, stockte mir der Atem und ich schwankte wie ein Schiff auf wilder See, zwischen rasender Wut und Traurigkeit hin und her. Doch als ich mich etwas beruhigt hatte, beschloß ich, obwohl es sehr viel Geld für mich ist, alles zu relativieren. Ich war einfach froh, daß stattdessen niemandem, der mir nahesteht etwas zugestoßen war.
Es gäbe Wahrheiten, für deren Vernichtung wir wahrscheinlich alles Materielle geben würden, das wir besitzen.
Ich war dankbar, daß ich nicht verletzt wurde und daß sich die nettesten, engagiertesten, hilfsbereitesten und zudem auch noch hübschesten Polizisten um mich und meinen „Fall“ kümmerten, die ich mir hätte wünschen können. Ich saß nicht ohne Geld und Ausweis in einem Land, in dem die Justiz nur in Form einer Uniform existiert, sondern ich wurde absolut großartig betreut, beraten, beruhigt, zudem mit Cappuccino versorgt und hielt am Ende dieses nervenaufreibenden Tages, zumindest einen Polizeibericht mit Aktenzeichen in den Händen, den ich zu Hause meiner Bank vorlegen konnte.
Selbstverständlich hätte ich ein anderes Ende für diesen Kurztrip gewählt, aber ab einem gewissen Punkt konnte ich wählen, wie ich weiterhin mit der Situation umgehen wollte. Genau wie mit all den anderen mehr oder weniger großen Herausforderungen von gestern, heute und morgen.
Wir standen einen Moment lang da, dann lächelten wir einander an, umarmten uns zum Abschied und ich dachte wie verrückt es eigentlich ist, daß all das, worum ich jahrelang so hart und verzweifelt gekämpft hatte, geradezu in mein Leben strömte, als ich losgelassen hatte: eine Beziehung, die mir nicht gut tat, genau wie ein paar Menschen, die an sie gekoppelt waren und einen Kampf, den ich niemals hätte gewinnen können.
Ich habe mich abgemüht und verbogen um Brücken zu schlagen, einen wohlwollenden Umgang zu finden, habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als ein friedliches, harmonisches und erfülltes Privatleben mit Freunden und Familie, ganz genau so, wie ich es jetzt plötzlich führe. Auf einmal ist alles, da: Leichtigkeit, Vertrauen, Spaß, unkomplizierte Kommunikation, ein echtes Miteinander und viele bereichernde Begegnungen, sowie der Raum, in dem sich all das entwickeln kann.
Was meinen Alltag noch vor ein paar Jahren dominiert hat, war sehr weit von meiner aktuellen Realität entfernt: Alkoholismus, Intrigen, Ego, Drama, Schuldzuweisungen, Streit, Lügen, Angst, Isolation, Scham und Manipulation.
All meine Werte blieben langsam aber sicher auf der Strecke, und plötzlich steckte ich in einem Leben fest, das sich abgrundtief anstrengend und falsch anfühlte.
Ich fühlte mich emotional leer, ausgebrannt, mißverstanden und erkannte mich phasenweise selber nicht mehr wieder. Die Kompromisse, die ich machte, waren größer als es erträglich war.
Wahrscheinlich hatte jeder von uns schon einmal Menschen in seinem Umfeld, die ihm vermittelt haben, nicht richtig zu sein. Menschen, die ihre Probleme wie selbstverständlich zu Deinen machen, von Deinen allerdings nichts wissen wollen.
Menschen, die Dich ohne Rücksicht auf Verluste zur Zielscheibe machen, wenn Du ihnen zufällig im Weg stehst. Menschen, die Dich in dem Moment in Frage stellen, wo sie nicht (mehr) von Dir profitieren können, oder sie ihre Bedürfnisse Dir zuliebe vielleicht ein einziges Mal zurückstellen müßten.
„Du bist ganz einfach zu emotional. Stell Dich nicht so an. Wenn Du nicht immer das Drama heraufbeschwören würdest, gäbe es kein Problem.“ So nach dem Motto: "Heul leise!"
Menschen, die ihren eigenen Mangel auf andere projizieren, die für alles, womit sie nicht zufrieden sind einen Sündenbock parat haben, gerne ein übersteigertes Machtstreben an den Tag legen, deren Motor ihr riesengroßes Ego ist und die es immer wieder schaffen, daß am Ende ihre Wahrheit siegt.
Menschen, die Profis darin geworden sind, ihr Gegenüber, die Gerechtigkeit und die Wahrheit jederzeit aus opportunistischen Gründen zu verraten, und die einzig und alleine ihren ganz persönlichen Vorteil im Fokus haben. Koste es, was es wolle.
Der Versuch sie zu ändern, oder sich selber so zu verbiegen, damit alles „gut“ und endlich harmonisch wird, ist ähnlich aussichtsreich, wie ein Lottogewinn. Was allerdings feststeht ist, daß negative Menschen, mit denen wir Zeit verbringen, uns, unser Leben und unsere Gedanken extrem beeinflussen... selbsterklärend nicht als Bereicherung.
Ich begriff irgendwann, das ALLES, was wir tolerieren, Raum in unserem Leben gewinnt.
In so einem Moment der Erkenntnis ist es wichtig den Fokus zu ändern und seine kostbare Energie endlich dafür zu nutzen, um alles loszulassen, was nicht im Wirkungsbereich des eigenen Denkens uns Handeln liegt. Es geht nicht darum dem Versuch hinterherzujagen, andere Menschen zu ändern, oder sich in Aussicht auf Verbitterung dauerhaft in ihren Kleinkrieg der Rechthaberei einzureihen, sondern darum herauszufinden, welche Ängste, oder Glaubenssätze uns dazu gebracht haben, uns schlecht von ihnen behandeln zu lassen.
Welchen Mangel in uns vermag ein anderer so perfekt zu füllen, daß wir bereit sind, dafür mit unserem inneren und äußeren Frieden zu bezahlen?
Es geht darum die unglücklichen Erfahrungen loszulassen und zu heilen, damit man seine Identität nicht aus diesem Schmerz der Vergangenheit erschafft.
Der Prozeß der Heilung des ganz Werdens, und bei sich Ankommen, hat einen absolut wunderbaren Nebeneffekt:
als Konsequenz trennt sich die Spreu vom Weizen. Ganz automatisch.
Denn je näher man seinem authentischen Selbst und seiner Mitte ist, je besser man seine Werte kennt, je weniger man nach Anerkennung im Außen sucht, und je größer das Vertrauen in die eigenen Intuition ist, desto unwahrscheinlicher wird man Dinge tun, oder Menschen in seinem Umfeld dulden, die einem nicht gut tun. Man hat schlicht weg kein Interesse mehr an Gesellschaft, die sich nicht richtig anfühlt.
Man wird auch keine Ausreden mehr suchen, die das eigene selbstsabotierende, oder das (unloyale) Verhalten eines anderen rechtfertigen.
Sich selber zu verlieren kann bewirken, sich selber zu finden.
Byebye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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