Er war gerade noch durch den Garten gelaufen, hatte seine Hasen gefüttert und saß nun ganz ruhig auf dem Sofa, die Knie nah an den Bauch herangezogen… seine Arme eng um die Beine geschlungen, als dicke Tränen begannen über seine Wangen zu laufen. Als ich fragte „was ist denn los Schatz?“, vergrub er sein Gesicht so tief es ging zwischen seinen Knien, die vom Fußballspielen ganz grün und schwarz waren. Ich setzte mich neben ihn und legte meine Arme um das weinende, aufgelöste Kind.
Mein Sohn hatte den Sohn meines Ex - Partners nach langer Zeit wieder gesehen, was viele schöne wie auch schmerzvolle Erinnerungen in ihm hochkochte. Er hing, trotz allem was vorgefallen ist, sehr an den beiden.
Ich sagte, daß es mir leid täte, daß er so traurig ist. Er schlang seine Arme um mich und fragte unter großem Schluchzen: „Geht es ihm wieder besser, oder muß er immer noch so viel Alkohol trinken? Warum hört er nicht einfach damit auf? Mama weißt Du, ob es ihm gut geht?"
Während ich beim Anblick meines Sohnes mit den Tränen kämpfte stieg, seit langem wieder einmal, eine unfassbare Wut in mir hoch.
Denn wie ich finde, geht es am Ende des Tages immer darum Verantwortung zu übernehmen. Auch dann, wenn man krank ist.
Aber es ist so viel leichter, sich die Wahrheit immer ganz genau so hinzudrehen, daß man sich selber nicht bewegen muß. Wollte mein Ex Partner trinken und war nicht bereit, sich wirklich ernsthaft der Herausforderung zu stellen, vor dem Alkohol zu kapitulieren, leugnete er seine Krankheit, bagatellisierte, log und machte sich über die anderen, die alle keine Ahnung haben lustig, oder ging in den verbalen Angriff.
Er demontierte meinen Selbstwert nicht selten so gekonnt, bis ich klein beigab. Ich weiß, daß das Teil der Krankheit ist, aber es ist so unendlich kräftezehrend.
Stürzte das Kartenaus wieder zusammen, durften es genau diese Menschen, die ja eigentlich keine Ahnung haben, wieder aufbauen.
Man kann, wenn man wieder klar ist, selber die Ärmel hochkrempeln, versuchen die Scherben zusammenkehren, oder es andere tun lassen. Man kann, wenn es darum geht Verantwortung zu übernehmen, alles auf die Krankheit schieben, die man gerade eben noch geleugnet hat. Man kann unangenehmen Situationen aus dem Weg gehen und ausblenden, daß es die Angehörigen unter Umständen nicht können. Man kann sich selber in einer Tour bemitleiden, oder sich zur Abwechslung einmal die Frage stellen, wie es eigentlich den anderen geht.
Allen Chancen, die er gerne genutzt und immer wieder vergeigt hat, habe ich den Weg geebnet.
Ich habe, als er bereits ausgezogen war, den Kontakt gepflegt, bin mit ihm und den Kindern zum Schlittenfahren, Baden, ins Kino, oder zum Essen gegangen. Ich habe ihn abgeholt, da er kein Auto und auch keinen Führerschein mehr hatte und habe vor den Jungs nie ein schlechtes Wort über ihn verloren. Ich wollte allen Beteiligten die Möglichkeit geben, ihre Beziehung weiterzuführen und sich sehen zu können. Ohne Vorwurf und Groll und ohne, auf ein Nimmerwiedersehen auseinander gehen zu müssen.
Ich wollte ihm ermöglichen, während er scheinbar an seiner Nüchternheit arbeitete, an seinem alten Leben teilhaben zu können. Ich lud ihn ein. Zu Geburtstagen und an den Weihnachtsfeiertagen.
Doch es stellte sich heraus, daß ich die große Gefahr, die das Aufbewahren jeder noch so kleinen Hoffnung birgt, kolossal unterschätzte. Es verhält sich wie mit einer winzigen Glut. Solange sie auf einem feuerfesten Teller liegt ist alles in Ordnung. Aber wehe sie fällt auf einen leicht entflammbaren Grund…
Solange man in Kontakt steht, zieht es einem sofort wieder den Boden unter den Füßen weg, wenn der Moment gekommen ist, da sich ein Mensch phasenweise in jemanden verwandelt, wegen dem Passanten wahrscheinlich die Strassenseite wechseln würden. Es spielt keine Rolle, ob Du noch ein Paar bist, und unter einem Dach lebst, oder nicht. Die grenzenlose Traurigkeit, die es in Dir anrichtet, ist die Gleiche. T. war an den Folgen seines Alkoholkonsums fast gestorben und diesen Schmerz konnte ich kaum ertragen. Man möchte ihn um alles in der Welt ausschalten, möchte den Film, der im Kopf läuft stoppen, oder noch besser: komplett löschen!
Man möchte den anderen anbrüllen und schütteln, damit er dem Alkohol endlich ein für alle Mal in den Arsch tritt, bevor es endgültig zu spät ist!
T.´s letzter Absturz (als wir noch Kontakt hatten) katapultierte ihn für mich in die Liga der verlorenen Seelen. Das war der Moment, als der letzte mikrokleine Rest meiner Hoffnung gestorben ist. Dabei ging es aber gar nicht mehr um das „Wir“. Das „Wir“ war für mich schon länger ausgelöscht. Ich fürchtete nicht, daß wir nicht mehr zusammenfinden würden, sondern dabei zusehen zu müssen, wie er vor die Hunde geht. Unwürdig und alleine und im schlimmsten Fall auf der Strasse.
Er war jetzt scheinbar angekommen. An dem absoluten Tiefpunkt, von dem immer alle sprechen.
Er hatte nichts mehr, und war von einem selbstbestimmten, erfüllten und trockenem Leben so weit entfernt, daß sein trauriges Ende plötzlich zum Greifen nah schien. Rolf Bollmann, ein mittlerweile seit 27 Jahren trockener Alkoholiker, der nach einer 35 Jahre andauernden "Trinkerkarriere" mit ca. fünfzig Jahren durch den Alkohol auch alles verloren hatte, was ihm lieb und teuer war, an den Folgen seines Trinkens beinahe gestorben wäre und schließlich pleite, allein und am Ende war, sagte mir, daß genau hier tatsächlich die Chance für einen Alkoholiker liegt: am Tiefpunkt. Er erklärte weiter, daß es für diesen Tiefpunkt keine allgemein gültige Definition gäbe. Es kann die Gosse, die Gesundheit, ein Selbstmordversuch, der Verlust des Jobs, oder des privaten Umfelds sein. Auch wenn ich T, wünschte, daß dies möglicherweise sein persönlicher wake - up call gewesen sein könnte, war ich raus. Ein für allemal.
Ich war nach all dem Hoffen und enttäuscht Werden, den leeren Versprechen, Ausreden und Rückfällen nicht mehr bereit Teil dieses neverending Dramas zu sein.
Ich wollte nicht mehr nachts angerufen, manipuliert, angefleht, beschimpft und in seine Probleme hineingezogen werden. Ich war lange bereit und gewillt den Kontakt aufrechtzuerhalten, aber jetzt nicht mehr. Nicht unter diesen Bedingungen.
Ich kannte die Spielchen, die Ausreden, die Versprechen und die Entschuldigungen, die schon längst zu einer Floskel verkommen waren. Ich habe die Fragen warum er getrunken hat, was der Auslöser gewesen sei und wie ich ihn unterstützen könne tausend Mal gestellt. Und ich kannte die Antworten. In und auswendig. Es war (höchste) Zeit für mich, die letzte Leine zu kappen.
"Du kannst eine Herausforderung benutzen, um aufzuwachen, oder du kannst sie benutzen, um noch tiefer zu schlafen. Der Traum gewöhnlicher Unbewusstheit verwandelt sich dann in einen Albtraum."
Eckhart Tolle
Seit seinem Auszug hat es gute zwei Jahre gedauert bis er es geschafft hat, einen Nachsendeantrag zu stellen. Er meinte der Gang zur Gemeinde sei schließlich sehr unangenehm für ihn. Ich mußte aufgrund dieser Äußerung fast lachen. Die Kinder und ich waren die ganze Zeit über den Blicken und unzähligen Fragen ausgesetzt gewesen, während er abgetaucht war. Ich mußte das Geschäft ohne ihn auflösen und funktionieren. Ich konnte nicht sagen, „das ist mir jetzt aber zu unangenehm“, „ich brauche mal eine Pause“…
Genau wie am ersten Schultag meines jüngeren Sohnes, der einen anderen Hauptdarsteller hatte, als das Kind mit der Schultüte.
Nach einem, sich (wieder einmal) über mehrere Wochen anbahnenden (Alkohol) Dramas, war mein damaliger Partner in einer Klinik. Wie so oft in dieser Beziehung war ich alleine und diejenige, die weiterhin funktioniert hat. Funktionieren mußte.
Während ich einerseits traurig war, dass er nicht an meiner Seite war, andererseits wütend, weil ich meinem Sohn einen anderen 1. Schultag gewünscht hatte und ich mich inmitten der anderen Familien so einsam fühlte, wie selten zuvor, versuchte ich meine Rolle so gut wie möglich zu spielen. Wie immer.
Ich gab mich fröhlich und unbeschwert, als sei alles in bester Ordnung und hielt die Blicke und Fragen, wo „er“ sei aus, obwohl ich emotional komplett ausgebrannt und leer war und mir am liebsten einfach die Decke über den Kopf gezogen hätte.
An meinem Geburtstag im März rief er gegen 16.00 Uhr an. Er war jenseits von Gut und Böse und stöhnte ins Telefon, daß es ihm schlecht ginge. Danke für diesen erheiternden Glückwunsch… aber nein danke. Es gibt Menschen, die es absolut perfektioniert haben, um sich selber zu kreisen. Unermüdlich.
Ich bat ihn im Februar seine restlichen Sachen abzuholen. Sie stehen immer noch in der Garage. Nun kümmert sich jemand anderes darum. Wie immer.
Und auch sich von meinen Kindern zu verabschieden, die immerhin fast ihr halbes Leben mit ihm verbracht haben sah er scheinbar nicht als seine Aufgabe.
Dass ich keinen Kontakt mehr möchte ist die eine Sache.
Aber ich denke, daß muß einen nicht davon abhalten, für einen ordentlichen Abschluss zu sorgen. Oder vielmehr „hätte sorgen können“, als es an der Zeit gewesen wäre.
Man kann ein Kind anrufen um sich zu verabschieden, zum Geburtstag eine Karte schicken, oder einen einmaligen Brief schreiben, in dem man versucht die komplizierte Sache zu erklären, so gut es eben geht… sich bedanken, sagen daß es einem leid tut, … man an es denken wird, es sich nicht unterkriegen, keine Sorgen machen, sondern an die schönen Zeiten denken soll… oder statt dessen ohne ein Wort sang und klanglos verschwinden und die eigenen Wunden lecken.
Er sah nicht in die verheulten Augen der Jungs. Ich schon. Er erklärte ihnen auch nicht, was sein Problem war. All das war mir vorbehalten.
Da ich weiß, wie sehr wir uns selber schaden, wenn wir im Vorwurf und im Groll sind, lasse ich meine kurz aufgeloderte Wut jetzt sofort wieder gehen…lasse sie ganz schnell los und bin stattdessen unendlich dankbar dafür, daß all das hinter uns liegt und meine Kinder offen mit mir sprechen, wenn sie etwas belastet.
Heute bin ich glücklich, daß wir ganz genau da sind, wo wir sind.
Ich holte tief Luft und fragte meinen Sohn: „möchtest Du ihn anrufen?“ Er schüttelte den Kopf, hörte auf zu weinen, sah mir in die Augen und sagte „nein Mama, das möchte ich nicht.“
Byebye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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