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112... im Stich gelassen.

Eines Nachmittags jagte mir sein Zustand große Angst ein. Ich entschied mich den Notruf zu wählen, ungeachtet wie T. darauf reagieren würde. Basierend auf meinen Erfahrungen mit ihm wußte ich, daß er jedes Mal wenn es um Ärzte oder Krankenhäuser ging wütend wurde, und absolut nichts davon wissen wollte. Schließlich hatten wir alle keine Ahnung und er alles „im Griff!


Im Endeffekt erklärt sich das von selber, da ein alkoholkranker Mensch, der noch nicht vor dem Alkohol kapituliert hat, weiterhin trinken und daran glauben möchte, daß er seinen Konsum kontrollieren kann.


Ein Besuch bei einem Arzt, der aussprechen könnte, daß man abhängig ist, und möglicherweise gemeinsam mit der Familie einen Entzug und eine Therapie organisiert, ist in dieser Phase natürlich keine Option, der sich ein Alkoholiker freiwillig stellt.


Ich hatte T. schon öfters betrunken erlebt als ich es hätte zählen können, habe ihn unendliche Male aufgesammelt, habe ihn ins Bett geschafft, ihn gestützt, habe versucht ihm gut zuzureden, habe ihn unter Tränen angebrüllt, oder während er seinen Rausch ausgeschlafen hat an seiner Seite gewacht, bis er wieder zu sich kam. Doch heute war irgendetwas anders als sonst. Nachdem ich ihm die Tür geöffnet hatte, wankte er beinahe wortlos an mir vorbei. Er sah mich kein einziges Mal an und ich konnte den Alkohol noch riechen, als er bereits aus meinem Blickfeld verschwunden war. Bisher gab es hauptsächlich die Abstürze, die sich im Laufe eines Abends entwickelten und damit endeten, daß er betrunken ins Bett fiel.


Doch in letzter Zeit häuften sich Vorfälle wie dieser, die es mir nicht mehr gestatteten, sie mit meiner üblichen co - abhängigen Routine wegzuwischen, um dann einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen.


T. war dermaßen jenseits von Gut und Böse, daß mit Sicherheit mindestens ein Liter Wodka im Spiel gewesen sein mußte. Diese Vollräusche am helllichten Tag kamen leider immer öfter vor, und ab und zu hatte ich sogar das Gefühl, daß er in diesen Zuständen Atemaussetzer hatte. T. zeigte dann für Sekunden, die sich für mich wie einen Ewigkeit anfühlten, keine erkennbare Regung mehr, was mir jedes Mal eine höllische Angst einjagte. Wie üblich breitete sich ein Potpourri aus Traurigkeit, Wut und Machtlosigkeit gegenüber dieser schrecklichen Krankheit, mit der Geschwindigkeit eines Hurricanes in mir aus.


Doch wie üblich war auch heute kein Raum um Schwäche zu zeigen, rumzuheulen, oder großartig über mein Befinden nachzudenken.


Also fing ich wie mechanisch an, mich um T. zu kümmern, um Schlimmeres zu verhindern, und eine Lösung zu finden, bevor die Kinder da waren und ihn so erlebten. Mir blieben gute zwei Stunden, bis sie nach Hause kamen. Also mobilisierte ich wie gewohnt all meine Kräfte, um die schmerzvollen Gefühle wegzuschieben und folgte ihm. Ich sah ihn, wie er im Wohnzimmer stand. Er war auf eine entrückte Weise abwesend, und ich fürchtete er könnte bewußtlos werden. Seine Augen wirkten leer und schienen durch alles hindurch zusehen, während er seinen Kopf hängen ließ.


Er stand einfach nur so da, balancierte auf der Stelle und es wirkte, als hätte er vergessen wo er hin wollte, so als wüßte er nicht, wer und wo er eigentlich ist.


Trotz aller Bemühungen gelang es mir nicht, T. auch nur ein Wort zu entlocken, daß es mir erlaubt hätte, seine Verfassung besser einschätzen zu können. Schließlich fasste ich ihn mit festem Griff an seinen Schultern und bugsierte ihn vorsichtig aber bestimmt in Richtung Sofa. Er folgte meinen Anweisungen wort-, fast willenlos. Als seine Beine die Kante des Sitzkissens berührten, versuchte ich ihn in die perfekte Stellung zu dirigieren, da ich davon ausging, daß er sich jeden Moment ziemlich umkoordiniert, und mit großer Wucht fallen lassen würde. Als die richtige Position gefunden war, forderte ich ihn auf sich vorsichtig zu setzten, doch es kam wie ich bereits geahnt hatte. Er fiel wie ein nasser Sack um, landete aber zum Glück heil auf den weichen Kissen. Das Sofa rutschte durch den Aufprall mit einem kurzen Quietschen ein kleines Stückchen zur Seite. Sobald T. lag, schloß er seine Augen und sein linker Arm rutschte von der Sitzfläche, so daß seine Hand mit einem dumpfen Schlag auf den Parkettboden knallte. Da er scheinbar in einer stabilen Lage war, ließ ich ihn genau so liegen und ging in die Küche. Ich spürte wie schnell und kurz ich atmete. Ich fühlte mich einerseits erleichtert, daß er nun erst einmal "aufgeräumt" war, doch gleichzeitig fürchtete ich den Moment, in dem er wieder zu sich kommen würde, und hatte große Angst ob seines gesundheitlichen Zustands.


Ich begann mir selber Mut zuzusprechen und hielt mich nachdrücklich an, tiefe Atemzüge zu nehmen, um mich zu beruhigen. Ich stützte mich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab, schloß die Augen und spürte, wie mein Atem zusehends ausgeglichener und gleichmäßiger wurde. Nachdem ich bestimmt fünf Minuten lang so dagestanden hatte, nahm ich einen großen Schluck aus dem Wasserhahn, wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und schlich so leise wie möglich zurück ins Wohnzimmer, um nach T. zu sehen. Er lag unverändert auf dem Bauch. Sein hellblaues Hemd war ziemlich verknittert und aus der Hose gerutscht, seine Hand lag nach wie vor auf dem Boden und sein dichtes braunes Haar verdeckte sein Gesicht. Ich konnte sehen daß sich sein Brustkorb hob und senkte, doch ich machte mir trotzdem große Sorgen. Ich beschloß mein Handy zu schnappen und nun schnell den Notarzt zu rufen, bevor er wieder wach wurde, und noch so durch den Ort torkelte, beschloß weiter zu trinken, oder sich im schlimmsten Fall vielleicht noch ans Steuer setzte.


So sehr ich seine Reaktion über die Ankunft der Sanitäter fürchtete, hoffte ich, daß er, sobald er entgiftet war, erkennen würde, daß ich es gut meinte und ihn nicht ans Messer liefern, sondern ihm helfen wollte.


Es hieß nur, den ersten großen Orkan seines Widerstandes zu überstehen, bis er wieder klar denken konnte, das Gift aus seinem Körper, und er wieder er selber war.


Ich nahm mein Telefon und schlich mich ins Gäste WC im Flur, damit er mich nicht hören konnte. Mein Herz pochte bis zum Hals. Ich befürchtete T. könnte den Braten trotz seines Zustands riechen und sich aus dem Staub machen, bevor der Krankenwagen da war.


Ich wählte hektisch die 112.


Nach kurzem Klingeln wurde abgehoben. Beinahe flüsternd nannte ich mit zittriger Stimme meinen Namen, die Adresse, und erklärte kurz, daß ich Angst wegen des Zustands meines alkoholkranken Partners hätte, und ich um Unterstützung bitten möchte, da ich mit der Situation überfordert und der Meinung bin, er benötige dringend eine ärztliche Versorgung. Als ich alle notwendigen Informationen mitgeteilt hatte, sagte man mir, daß ein Krankenwagen unterwegs sei. Ich legte auf und konnte vor lauter Aufregung wieder nur sehr flach atmen. Ich traute mich kaum, mich von der Stelle zu rühren, da ich so sehr hoffte, T. würde jetzt nicht aufwachen, sondern um Gottes Willen einfach weiter schlafen und auf dem Sofa liegen bleiben, bis Hilfe da war.


Die Zeit schien sich nun wie ein Kaugummi unendlich in die Länge zu ziehen, und die Zeiger meiner Uhr schlichen förmlich über das Ziffernblatt. Nach einer gefühlten Ewigkeit klingelte es endlich. Ich war erleichtert, daß das Schlimmste nun beinahe geschafft war, öffnete schwungvoll die Tür, und deutete mit der Hand in die Richtung wo sich der Patient befand. Die Rettungshelfer verloren keine Sekunde, und eilten mit großen schnellen Schritten, und ihrem schweren Koffer ausgerüstet in das Wohnzimmer zu T.. Während ich ihren leuchtenden Westen hinterher blickte, beschloß ich, daß es besser sei im Flur zu warten. Ich befürchtete, meine Anwesenheit würde T. eventuell zu einer unnötigen Diskussion animieren. Ich war sehr nervös und tröstete mich mit dem Gedanken, daß T. nun in medizinische Obhut käme, entgiften würde und man dann eine Grundlage hatte, zu sehen, wie es weitergehen sollte.


Und gerade als ich mich dieser Gedanke zunehmend beruhigte, erschienen die zwei Sanitäter wieder im Flur und verabschiedeten sich kommentarlos von mir.


Aber sie gingen ohne T.! Die absolut blanke Panik stieg in mir hoch. Das konnte nur ein Missverständnis sein! Wahrscheinlich hatten sie nur etwas im Wagen vergessen oder holten die Liege um ihn zu transportieren. Als mein Blick daraufhin wie ein Ping Pong Ball zwischen den beiden hin und her hüpfte, und ich mit leicht schriller Stimme fragte, ob sie ihn denn nicht mitnehmen, lautete die Antwort schlicht wie schockierend: „Der T. hat mir gesagt, daß er nichts getrunken hat, und dann glaube ich ihm das auch. Servus!“ Das war alles? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!


Sie gingen, drehten sich kein einziges Mal mehr um, oder fragten mich ob sie mir irgendwie helfen konnten. Ich stand regungslos in der Tür und sah den Krankenwagen wieder davon fahren. Er bog um die Kurve und war weg.


Diese Situation war einer der größten Arschtritte, die ich bisher im Bezug auf die Krankheit Alkoholismus erlebt habe. Es hatte mich so unendlich viel Überwindung gekostet die Entscheidung zu treffen Hilfe zu rufen, und dann wurde ich ohne ein einziges Wort einfach stehen gelassen. Alleine mit einem Menschen, der sich akut in Gefahr und in einem unberechenbaren Zustand befindet. Hielten die zwei mich etwa für eine hysterische blöde Kuh, die den Notruf wählt, weil ihr Mann sich mal ein Bierchen zu viel gegönnt hat?


Ich frage mich damals wie heute, wie man erwarten kann, daß die Gesellschaft Alkoholismus versteht und als Krankheit anerkennt, wenn sogar Menschen die im medizinischen Dienst arbeiten wegsehen.


Ich stand immer noch an der offenen Haustür und blickte auf die mittlerweile leere Straße vor meinem Haus. Ich wußte, daß ich der Konfrontation mit T. nicht ewig aus dem Weg gehen

konnte, und beschloß meiner Angst zu trotzen und zu ihm zu gehen. Ich wollte es hinter mich bringen. Jetzt gleich.


Ich schloß die Eingangstür, strich mir eine Strähne aus der Stirn und ging ins Wohnzimmer. Entgegen meiner Erwartung schien er sich entschlossen zu haben, sein Schauspiel, daß alles in Butter sei bei mir fortzuführen, anstatt mir Vorwürfe zu machen. Vielleicht fürchtete er, ich könnte erneut einen Notruf absetzen. Er saß mittlerweile einigermaßen aufrecht auf dem taubenblauen Sofa und versuchte etwas unbeholfen die Kissen zu arrangieren. Ich war so unsagbar erleichtert darüber, daß ich das Spiel gerne mitspielte, und T. nach einem belanglosem Geplänkel nach oben begleitete, beziehungsweise ihn die Treppen hochschob, während ich gleichzeitig versuchte ihn so gut es ging zu stützen, damit er die Stufen nicht rückwärts hinunter stürzte. Nachdem er noch den Türrahmen mit der Schulter gerammt hatte, waren wir endlich im Schlafzimmer angekommen. Sobald er ins Bett gefallen war, sank er sofort wieder in einen tiefen Schlaf. Ich öffnete die Fenster, zog die Vorhänge zu, und schloß die Türe leise hinter mir.


Ich ging die Treppen hinunter und setzte mich auf das andere Sofa, von dem aus man in den Garten, direkt auf den kleinen Apfelbaum blicken kann. Die Stille um mich herum wurde plötzlich unerträglich laut, und ich spürte wie meine Schläfen anfingen zu pochen. Mir war klar, daß dies der Vorbote für einen gewaltigen Kopfschmerz war, der sich nun in Windeseile ausbreiten, und mich in die Knie zwingen würde. Ich schloß die Augen und nahm mein Gesicht in beide Hände. Die Tatsache, daß T. in unserem Ort und der ganzen Gegend durch seine Arbeit in der Gastronomie, und seinen festen Platz im Gemeinderat einen großen Bekanntheitsgrad hatte, machte den Umgang mit seiner Krankheit noch schwieriger. Zum einen war die Angst, daß sich gewisse alkoholbedingte Aussetzer herumsprachen bei mir und seiner Familie aufgrund des Geredes extrem groß, weshalb ich wahrscheinlich besonders bemüht war sein Trinken zu vertuschen, obwohl es ehrlich gesagt schon längst kein Geheimnis mehr war. Auf der anderen Seite wurde er auch von Außenstehenden über die Maßen gedeckt.


Deren Verhalten enthielt einerseits co - abhängigen Aspekte und andererseits das „eine Hand wäscht die andere" - Prinzip.


Woher T. beispielsweise diese Sanitäter genau kennt weiß ich bis heute nicht, und das spielt auch überhaupt keine Rolle. Am Ende des Tages war diese für mich unglaubliche Reaktion eine Mischung aus "helfen", im Sinne von jemanden in seiner Alkoholsucht zu decken, und es sich andererseits nicht mit ihm verscherzen zu wollen. Ein Gastronom, der im Gemeinderat tätig ist, ist natürlich für viele Belange ein guter Kontakt, den sich manche vielleicht warm halten wollte, indem sie nicht aussprachen, was T. selber verleugnete.


Das war rückblickend T.´s Resümee, als er wieder eine klare Phase hatte.



Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia



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