Ich habe die Erfahrung gemacht, daß viele Menschen gerne in Schubladen denken. Vielleicht nicht einmal bewußt, aber sie tun es trotzdem. Oder sie unterscheiden nur zwischen Schwarz und Weiß, ohne eine Schattierung, ohne einen Grauton dazwischen. Menschen, die Schwierigkeiten mit unkonventionellen Wegen haben, die nicht bereit sind einen anderen Blickwinkel einzunehmen, und für die oft nur ein „Entweder - Oder“ existiert. Menschen, die bei Problemen sofort die Schuldfrage stellen, und für die Trennung Streit bedeutet. Oder Krieg. Menschen, die Gleiches mit Gleichem vergelten, anstatt sich selber zu reflektieren. Menschen, die sich nicht vorstellen können, daß man in Liebe auseinander gehen kann, wenn es die Umstände verlangen. Aber man kann.
Als für mich absehbar war, daß ich an meiner Co - Abhängigkeit zugrunde gehen werde wenn ich T. nicht loslasse, hatte ich zwei Möglichkeiten.
Ich konnte mich dazu entschliessen, den Rest meines Lebens in der Opferrolle zu verharren, und seiner Krankheit, dem Leben, dem Alkohol und ihm die Schuld daran geben, was ich nicht alles mitgemacht habe.
Ich konnte jedem der es hören, oder nicht hören wollte vorjammern, was ich in meiner Beziehung alles durchmachen mußte, und mich in alle Ewigkeit bemitleiden lassen. Schlägt man diesen Weg ein, erschafft man Barrieren, die alles Positive ausschließen. Über kurz oder lang wird man verbittert, anklagend, frustriert, im schlimmsten Fall bösartig, und unter dem Strich, ein trauriger Mensch, der die Verantwortung für ein erfülltes Leben an die Umstände und andere Personen abgegeben hat, und sich von seinem Ego steuern und manipulieren lässt. Was man auf diese Weise definitiv nicht wird, ist glücklich.
In diesem Zustand befindet man sich Lichtjahre vom Erwachsenen - Ich, dem Higherself, und einem selbstwirksamen Menschen entfernt.
Ich entschied mich für den anderen Weg, den Weg der Eigenverantwortung und der Vergebung.
Ich verließ bewußt die Opferolle und entschied mich zu handeln. Ich nahm mir vor hinzusehen, und in den Schmerz hineinzugehen, denn ich ahnte, daß dies die einzige Möglichkeit war, ihn nachhaltig loszuwerden.
Ich stellte mir die Frage, was all das mit mir zu tun hatte, und ich wollte versuchen das Gute in dem ganzen Drama zu erkennen, damit es einen Sinn ergab, und ich emotional wirklich frei werden konnte. Worauf wollte das Leben mich stossen? Warum war ich in all das hineingeraten, und warum hatte ich es so lange mitgemacht?
Ich verspürte den Wunsch, meine schmerzvollen Erfahrungen mit der Krankheit Alkoholismus zu etwas Positivem, zu etwas Kraftvollem zu transformieren, um daran wachsen zu können, anstatt daran zu zerbrechen. Ich wollte nicht anfangen T. zu hassen, mich selber den Rest meines Lebens bemitleiden, und mich und mein Umfeld mit toxischen Gefühlen vergiften. Also begann ich, mich intensiv mit Alkoholismus und Co - Abhängigkeit zu beschäftigen. Ich wollte die Auswirkungen und Mechanismen dieser Krankheit endlich wirklich verstehen. Im Zuge dessen begriff ich immer mehr, daß es unerläßlich war, den Fokus wieder auf mich zu richten, und fing an aufzuräumen, und zwar gründlich.
Nicht im Außen, sondern in mir!
Ich befasste mich intensiv mit Persönlichkeitsentwicklung, ging in meine tiefsten Ängste hinein, und machte mich auf die Suche nach den wichtigen Fragen, den Antworten, dem Seelenmüll, und fand einige blockierende Glaubenssätzen.
In diesem Prozeß entdeckte ich plötzlich das "Warum", denn es entwickelte sich die Vision, meine Erfahrungen zu teilen. Ich hatte selber erlebt, wie hilflos, überfordert und alleine man sich als Betroffener von Alkoholismus fühlt.
Allerdings konnte ich nicht über meine Erkenntnisse und Erlebnisse sprechen, und T. und seine Krankheit dabei ausklammern. Beides war, und ist, für immer untrennbar miteinander verwoben.
Also erzählte ich T. von meinen Plänen und er fand es toll. Er ermutigte mich diesen Weg zu gehen. Die Idee ein erfahrungsbasiertes Buch für andere Co - Abhängige zu schreiben, unterstütze er ebenfalls von der ersten Sekunde an. Er war als Ansprechpartner und Ratgeber die ganze Zeit an meiner Seite.
Als ich tatsächlich fertig, und die letzte Zeile geschrieben war, fuhr ich zu T..
Ich stellte mein Laptop vor ihm auf den Tisch, und öffnete das Dokument mit der ersten Fassung meines Buches, das neben seiner eigentlichen Funktion als Ratgeber, gleichzeitig unsere Geschichte erzählt, denn sie ist die Grundlage meiner Erfahrungen mit Co - Abhängigkeit und Alkoholismus. Er las die 130 Seiten in einem Zug durch. Ich sah ihm dabei zu, beobachtete ihn, wie er sich zwischendurch auf die Lippen biß, er tief Luft holte, sich sein Kiefer anspannte, ihm Tränen in die Augen stiegen, um kurz darauf einem Lächeln zu weichen. Hin und wieder hörte ich ein kurzes, herunter geschlucktes Schluchzen. Während er las, stützte er sein Kinn in die rechte Hand, und sprach kein Wort. Er wandte den Blick keine Sekunde vom Bildschirm ab, sah mich kein einziges Mal an. Ich war angespannt und konnte seine Reaktion kaum abwarten.
Sah er die Dinge rückblickend vielleicht ganz anders als ich?
Würde er jeden Moment einfach aufstehen und gehen, oder wütend werden und mein MacBook an die Wand schleudern? Je länger er las, umso aufgeregter wurde ich.
Schließlich klappte er das Laptop zu, sah mich an und sagte: „Ich gratuliere Dir… von ganzem Herzen. Es ist wirklich gut. Ich bin sehr stolz auf Dich, und ich hoffe, es hilft anderen vielleicht noch auf der Schussfahrt zu wenden.“
Nach einem kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Es ist schön, wie Du es geschafft hast unsere Geschichte wahrhaftig und mit allen Schattenseiten der Krankheit zu erzählen, ohne daß Groll mitschwingt.
Ich bin sehr dankbar, daß Du scheinbar einen Weg gefunden hast zu vergeben."