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Julia Maria Kessler

Ich wusste, daß ich ihn endlich ganz loslassen musste.


Ich freute mich darauf ihn wiederzusehen. Er hatte eine gute Phase, und er fehlte mir.

Eigentlich wollten wir versuchen Ende der Woche essen zu gehen. Das heißt, er sagte Montag am Telefon zu mir, daß es schön wäre, wenn ich die Tage Zeit für ihn hätte.


Und nachdem ich sehr produktiv war, viel wegarbeiten konnte, das Blumengießen bereits der Regen erledigt hatte, alle Rechnungen überwiesen waren, ich vormittags laufen war, und die Kinder sowieso die ganze Ferienwoche unterwegs waren, klappte ich mein Laptop zu, und schrieb ihm ganz spontan schon am Dienstag Nachmittag eine WhatsApp. Warum bis zum Ende der Woche warten, wenn es auch schon heute ging? Ich schlug vor zu dem Italiener zu gehen, bei dem wir vor ein paar Wochen so viel Spaß hatten, und bot an ihn abzuholen, da er den Führerschein aufgrund einer betrunkenen Autofahrt verloren hatte. Als meine Nachricht zwei blaue Häkchen hatte, wartete ich auf seine Antwort. Ich wußte wie sehr er sich freuen würde den Abend mit mir zu verbringen und wunderte mich, daß er nicht zurück schrieb. Es sah ihm gar nicht ähnlich. Also wählte ich irgendwann seine Nummer.


Er hob ab, und nach dem ersten Wort wußte ich was los war.

Das Spiel begann.


Wie all die Male zuvor würde er niemals zugeben, daß er getrunken hatte. Es war auch noch nicht so viel, daß es ein Fremder unbedingt bemerkt hätte. Aber ich konnte es an seiner Stimme hören, und daran, wie er um den heißen Brei redete. Ich verstand seinen Konflikt. Einerseits wollte er mich unbedingt sehen, andererseits befürchtete er, ich könnte ihm anmerken, daß er nicht nüchtern war. Er ärgerte sich über sich selber, da er nicht damit gerechnet hatte, daß ich mich schon heute melden würde. Ansonsten hätte er dem ersten Schluck vielleicht widerstehen können.

Während er versuchte Zeit zu schinden, und bei sich abzuwägen, ob er das Ganze noch hinbekommen konnte, war anstelle meiner Freude über einen erfolgreichen Tag und ein Treffen mit ihm, längst der altbekannte miese Gefühlsbrei aus Enttäuschung, Machtlosigkeit, Traurigkeit und Wut getreten. Egal was ich jetzt tat, es würde nicht gut enden. Ich wußte, daß er in dem Moment, wo ich frage, ob er getrunken hat, sofort den Spieß umdrehen, und in den Angriff gehen würde.


Und nach all den Jahren, in denen ich kein einziges Mal falsch lag, schaffte er es nach wie vor mich so zu manipulieren, daß ich immer wieder an mir zweifelte. Vielleicht irrte ich mich ja dieses eine Mal tatsächlich, und tat ihm Unrecht?


Während ich diese verunsichernden Gedanken dachte, wußte ich gleichzeitig, daß es keinen Zweifel gab. Es klingt paradox und das ist es auch. Aber die alten Muster bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg. Nachdem er viele seltsame Sachen gesagt hatte, war ich in mein obligatorisches Schweigen verfallen, während sich mein Magen zusammen krampfte, und ich mit mir haderte, ob ich ihm sagen sollte, was ich dachte. Allerdings war es noch kein einziges Mal gut gegangen.


Selbst wenn ich noch so vorsichtig und mitfühlend nachfragte, und ihm sogar die Möglichkeit gab, darüber zu sprechen was der Auslöser war, daß er zur Flasche gegriffen hatte, wurde er angriffslustig und unsachlich.


Er durchbrach meine Gedanken mit der Frage „Was ist jetzt los?“ Daraufhin platzte es aus mir heraus. Nicht laut oder vorwurfsvoll, aber sehr klar. „Ich habe das Gefühl Du hast getrunken.“

Und sofort ging es los: „Ja genau! Das ist immer das Einfachste! Vielleicht bin ich auch nur mal erschöpft und müde. Aber bei mir heißt es immer sofort, der hat halt getrunken.“


Ich antwortete, obwohl ich wußte, daß dieses Gespräch nirgendwo hinführen würde, als in den Streit: „Es liegt nicht daran, daß Du erschöpft und müde klingst. Ich kenne Dich. Sehr gut sogar.“ Darauf er: „Wo ist dann das Problem?“ Ich versuchte ihm zu erklären, daß ich es an seiner Stimme hören konnte, die eine leichte Schlagseite hatte. Außerdem war da noch dieses unnötige Rumgeeiere wegen unserer Verabredung. Und jetzt witterte er die Keule, um mich KO zu schlagen, und griff nach ihr. „Nur weil ich nicht in der Sekunde antworte machst Du Stress?“


Das tat er immer wenn er sich von mir beim Trinken ertappt fühlte.


Er pickte sich in solchen Fällen etwas heraus, und wandelte es so um, daß ich wie eine hysterische Idiotin dastand, die dann nur noch damit beschäftigt war sich zu rechtfertigen, und dem verzweifelten Versuch hinterher jagte, das Gesagte richtig zu stellen. Natürlich machte ich keinen Streß, weil er nicht sofort geantwortet hat, sondern weil er getrunken hatte. Außerdem machte ich überhaupt keinen Streß, sondern sprach es zunächst ganz ruhig an. Nur darum ging es jetzt nicht mehr. Es ging um mich, und wie falsch und ungerecht ich mich wieder einmal ihm gegenüber verhalten hatte. Das ist ein sehr cleveres Prinzip. Ablenkung durch Angriff und Verdrehen der Tatsachen. Ich stand jedes Mal wieder in Null Komma nichts mit dem Rücken an der Wand, und versuchte seinen verbalen Salven auszuweichen.


Und auch wenn man weiß, daß dieses Verhalten Teil der Krankheit ist, verletzt es einen sehr, kostet unendlich viel Energie, und ist nur schwer zu ertragen. Es verläuft wieder und wieder nach demselben Muster, und hinterläßt doch jedes Mal neue Spuren der Verletzung.


Variante Nummer zwei wäre gewesen, daß ich den Rückfall ignoriert, und das Spiel mitgespielt hätte. Allerdings weiß ich, daß wir unter solchen Umständen auch kein friedliches oder gar schönes Treffen hinbekommen hätten. Denn seine Persönlichkeit ist durch den ersten Schluck Alkohol verändert, und zwar nicht zum Guten. Außerdem konnte ich davon ausgehen, daß er nun weiter trinken würde. In der Zeit bis ich bei ihm war, oder wenn er im Restaurant vorgab zur Toilette zu gehen, oder die Zigaretten im Auto vergessen zu haben. Die Stimmung würde zusehends toxischer, und da ich mich ohnehin schon in einem negativen Gefühlschaos befand, ließe all das allenfalls ein oberflächliches Geplänkel zu.


Er wäre angespannt gewesen, weil er sein Trinken vertuschen möchte, und ich, weil ich es bemerkt hätte.


Das wiederum würde ihm auffallen, weshalb er mich verbal herausfordern würde.

Es gäbe entweder schmerzvolles Schweigen oder destruktiven Streit. Somit kämen wir früher oder später genau an den Punkt, an dem wir gerade standen. So oder so.


Unser Gespräch war in Nullkommanichts so verfahren, daß es absolut keinen Sinn machte, an unserer Verabredung festzuhalten. Die Mechanismen, die die Krankheit Alkoholismus auslöst, lassen leider nur sehr wenig Platz für konstruktive Entwicklungen.


Die Persönlichkeit des Kranken verändert sich unangenehm, und das Trinken führt zunehmend zu Streitereien und Verletzungen.


Je länger dieser Zustand andauert, umso schneller zieht es einem bei Rückfällen den Boden unter den Füssen weg.


Wir legten auf und meine Freude über diesen bisher schönen, produktiven Tag wich nun endgültig einer bleiernen Schwere der Enttäuschung und Traurigkeit. Ich versuchte auf andere Gedanken zu kommen. Es gelang mir nicht besonders gut. Ich machte mir Sorgen.


Es dauerte nicht allzu lange und er rief mich wieder an. Einmal, zweimal, achtmal, zwölfmal...

Den Inhalt solcher Gespräche wiederzugeben ist schwierig. Sie sind wirr und verzweifelt.

Er sagte: "Ich liebe Dich so sehr." Dann wünschte er mir einen schönen Abend, als sei nichts geschehen. Als nächstes machte er mir Vorwürfe, dann gestand er, den Alkohol nicht im Griff zu haben, gab mir Recht und bat um Verzeihung... stritt ab getrunken zu haben. Er legte auf, oder ich legte auf. Er rief erneut an. Wir stritten. So ging es hin und her. Irgendwann war er so betrunken, daß man ihn nur noch mit Mühe verstehen konnte. Seine mehrfach wiederholte Bitte zu mir kommen zu dürfen schlug ich aus. Weil ich genau das hier nicht mehr wollte, wohnten wir schon lange nicht mehr zusammen, und führten keine Beziehung mehr.


Wir hatten Situationen wie diese schon tausendmal durchlebt, und ich wußte mittlerweile, daß ich ihm nicht half, wenn ich mich immer wieder darauf einließ, und mich meiner Angst und Liebe beugte.


Ich wußte nach mehreren Jahren in dieser Beziehung auch, daß ich durch co - abhängiges Verhalten nicht nur mir, sondern letztendlich auch ihm schadete. Aber ungeachtet dessen, wie sehr ich all das theoretisch begriffen hatte, kostete es mich unendlich viel Kraft, gegen den menschlichen Instinkt, demjenigen helfen zu wollen, dem man liebt, anzukämpfen. Es ist entgegen unserer Natur, da es sich in diesem speziellen Fall anders verhält. Anders, als wir es unser Leben lang gelernt haben.


Man hilft einem alkoholkranken Menschen, wenn man anfängt die alten Muster zu durchbrechen, aufhört wieder und wieder die Scherben zusammen zu kehren, ihn zu decken, und beschützen zu wollen.


Man hilft nur, indem man in Liebe loslässt.


Ihm und sich selber.

Und das ist verdammt schwer.



Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia


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