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Julia Maria Kessler

Drama = Tagesordnung

Im Zuge meiner Ausbildung zum Life Coach standen einige Bücher auf meiner „to read - Liste“. Eines habe ich den Empfehlungen der Akademie für mich persönlich hinzugefügt:

„Das Kind in Dir muss Heimat finden“ von Stefanie Stahl. Ich bin wirklich dankbar, daß meine Freundin es mir empfohlen hat, denn ich liebe, liebe, liebe dieses Buch! Bereits auf einer der ersten Seiten las ich einen Satz, der mich auf augenöffnende Weise, in eine der allerschlimmsten Zeiten meines Lebens katapultierte, und mir gleichzeitig ermöglichte, einen überaus giftigen Stachel endlich aus meinem Bewusstsein zu entfernen.


Die Diplom - Psychologin schreibt: „Vor allem Gefühle wie Ohnmacht und Unterlegenheit können, wenn sie unreflektiert bleiben, durch ein übersteigertes Machtstreben und Geltungsbedürfnis auf eine sozial unverträgliche Weise kompensiert werden.“


Da war sie, als ich gar nicht mehr mit ihr rechnete: die Antwort auf meine Frage, wie sich ein Mensch so gnadenlos gemein und skrupellos verhalten kann, wie T. und ich es jahrelang erleben mußten.


Nicht wenige, ebenfalls Betroffene der AA bestätigten uns, daß wir mit der Erfahrung, daß Menschen einen Alkoholiker mithilfe seiner Krankheit instrumentalisieren, nicht alleine waren. Nicht zu vergessen die falschen Freunde, die einen siebten Sinn dafür haben, im falschen Moment aufzutauchen, ihren guten Kumpel gerne zum Trinken animieren, und genau so schnell wieder weg sind, wenn es gilt die Scherben zusammen zu kehren. Abgesehen davon, was ein alkoholkranker Mensch anderen, bedingt durch die Auswirkungen seines unkontrollierten Alkoholkonsums „antut“, ist auch er selber ein leichtes Opfer für Manipulation, wenn man seine Krankheit gekonnt als Achillesferse nutzt, und alles nur erdenkliche tut, um die Nüchternheit durch Schikanen zu torpedieren. Denn kennt man seine Ängste, und ist in der Position mit dem Finger tief in sie hinein zu bohren, sie tagtäglich zu schüren und am Leben zu halten, kann man einerseits Rückfälle provozieren, und diese wiederum nutzen, um ihn anschließend wie eine Marionettenpuppe zum eigenen Vorteil tanzen zu lassen.


Der chronisch labile Zustand eines Alkoholikers, bestehend aus Scham, zunehmend mangelndem Selbstwert, und schlechtem Gewissen, wird mit seinen größten Ängsten garniert, und tut sein übriges, daß dieses Spiel funktioniert. Es geht um Ego, Rache, Macht und Geld. Das ist es, was die kleinen mit den großen Kriegen gemeinsam haben.


Heute bin ich für diese Erfahrung beinahe dankbar, denn durch sie ist mir klar geworden, wie unglaublich wichtig es ist darauf zu achten, mit welchen Menschen man sich umgibt, und wem man Zutritt in sein Bewusstsein gewährt. Denn unsere Gedanken sind unfassbar kostbar, da sie letztendlich unsere Realität

( mit - ) erschaffen. Aus diesem Grund ist es unerlässlich klare Grenzen zu ziehen, um sich, und seine Energie zu schützen.


Aber zum Glück gibt es wo Schatten ist ist auch Licht! Genau wie auf unserem Weg, den auch viele ganz wundervolle Menschen begleitet haben. Menschen, die sich Sorgen machten, die kein Interesse an Tratsch hatten und regelrecht mit uns litten. Menschen, die ganz offen mit T.´s Krankheit umgingen und ihm Raum gaben, darüber sprechen zu können. Menschen, die weder ihn noch mich verurteilten. Menschen, die in der Lage sind, Dir mit einem Blick das Gefühl zu geben, sie würden Dir sofort helfen, wenn sie nur wüssten wie. Menschen, die T., trotz allem was geschehen war liebten. Aber wir waren alle ein Stück weit überfordert und ratlos.


Wir begannen langsam das ganze Ausmaß der Situation zu begreifen.


Ein komplett eskalierter Abend hatte zur Folge, daß es innerhalb T.´s Familie sehr offene Gespräche gab. Wir waren an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr weiter wußte, an dem das Drama zur Tagesordnung geworden war. Jetzt endlich mit der Sprache rauszurücken, das Versteckspiel zu beenden, die schlimmen Erlebnisse zu teilen, war für mich unendlich befreiend! Endlich war ich nicht mehr alleine mit der Verantwortung, die ich mir selber aufgeladen hatte.


Plötzlich waren die Engel da. Menschen, die genau wie ich nur das Beste für uns, das Beste für T. wollten, da auch sie erkannten, daß er kein Monster, sondern sehr, sehr krank ist. Wir kamen gemeinsam zu dem Entschluss, daß es höchste Zeit war, die Reißleine zu ziehen und ihn in professionelle Hände zu übergeben.


Und wenn Du jetzt glaubst, er hätte darüber frohlockt, wäre ebenso erleichtert und dankbar für die helfenden Hände gewesen wie ich, kann ich nur sagen: weit gefehlt! Sehr weit sogar.


Denn wie ich bereits erwähnte, ist eine der größten Ängste eines Alkoholikers ohne Alkohol leben zu müssen. Alkohol ist für ihn über sehr lange Zeit zu seinem vermeintlichen "Allheilmittel" geworden.


Der Griff zur Flasche ist für den alkoholkranken Menschen wie der Sprung auf die rettende Insel, sein Anker in der Not.


Selbstverständlich wissen wir, daß das Quatsch, daß genau das Gegenteil der Fall ist. Doch der Alkoholiker glaubt das im Zweifel auch dann noch, wenn er mit einem ausgeschlagenen Zahn und ohne Schuhe auf einer Parkbank aufwacht. Oder sagen wir es so,... er möchte es glauben, um der Wahrheit nicht in die Augen sehen zu müssen, und die Tatsache anzunehmen, daß er Alkohol niemals kontrolliert trinken können wird.


Die Vorstellung alle Situationen im Leben nüchtern zu bewältigen, kein Mittel mehr zu haben, um Ängste, Trauer, Nervosität und Zweifel zu betäuben, sich im wahrsten Sinne des Wortes keinen Mut mehr „antrinken“ zu können, sich in schönen Momenten zu "belohnen", oder die unerträgliche Leere zu füllen, ängstigt ihn zu Tode. Sein ganzes Leben kreist irgendwann nur noch um die Flasche, sein „Ein & Alles“, das man ihm jetzt einfach so wegnehmen möchte. Aber er ist noch lange nicht bereit, sie freiwillig herzugeben! Und ganz egal, was bereits alles vorgefallen ist, wie viele Autos ein alkoholkranker Mensch schon zu Schrott gefahren hat, wie oft er schon vom Krankenwagen abtransportiert wurde, wie viele Blackouts er hatte,...


... wird er sich weiter einreden, daß alle anderen das Problem dramatisieren, keine Ahnung haben und er jederzeit kontrolliert trinken könnte, wenn er es wirklich wollte.


T. begann an diesem Punkt sich möglichst vernünftig und verantwortungsbewußt zu geben, und brachte haufenweise Argumente vor, warum er jetzt, zu diesem Zeitpunkt auf gar keinen Fall in die Klinik gehen kann. Die Tatsache, daß er durch seine Krankheit im Privatleben, sowie auch im Job für alle anderen immer mehr zur Belastung geworden war, blendete er natürlich aus. Er argumentierte mit bevorstehenden Events und Projekten, bei denen er unabkömmlich sei. Außerdem steht noch ein runder Geburtstag an, die Homepage muß, genau wie die Speisekarte vor Saisonstart auf den neusten Stand gebracht, und an bevorstehenden Gemeinderatssitzungen teilgenommen werden. Ach, und der Urlaub sei schließlich auch schon geplant. Du verstehst? Er lief zu Hochtouren auf, um anhand unendlich vieler, existentiell wichtiger Termine und Verpflichtungen deutlich zu machen, daß ein Klinikaufenthalt vielleicht gut gemeint, aber leider Gottes unmöglich war. Im Endeffekt wollte er lediglich Zeit schinden und hoffte, daß das ganze "Projekt Entzug“ wieder im Sande verlaufen würde.


Er leugnete die Tatsache, daß man, wie es Albert Einstein formulierte, „Probleme nicht auf die gleiche Weise lösen kann, wie sie entstanden sind“, und versuchte zu vermitteln, daß er das Trinken wieder alleine in den Griff bekommen würde.


Als T. jedoch dämmerte, daß er nicht auskam, startete er Argumentationskette Nummer zwei. Er versicherte uns, daß er einen Klinikaufenthalt aufgrund seiner Krankenhaus - und Ärztephobie nicht überleben werde. Außerdem würde er die Vorstellung, den Sommer über von mir getrennt, und alleine mit seiner Eifersucht zu sein, nicht ertragen können. Er versuchte uns sehr glaubhaft zu vermitteln, daß das dann ohnehin sein "sicheres Ende" sei, und er für nichts garantieren könne.


Aber wir blieben hart, ließen uns nicht verunsichern, und T. erkannte, daß es kein Entrinnen mehr gab. Er begab sich, wohl oder übel, fünf Tage in den Entzug, und anschließend in eine mehrwöchige Therapie.


Ohne es zu wissen, schlug ich nun das zweite Kapitel meiner Co - Abhängigkeit auf. Ich war fast high vor Euphorie, und glückselig über die Aussicht, daß dieser Klinikaufenthalt nun endlich den lang ersehnten Durchbruch bringen würde.


Ich begann wieder, mir unsere gemeinsame Zukunft in den allerschönsten Farben auszumalen. Der schwere Vorhang der Verzweiflung hob sich langsam, aber zusehends, und Freude und Zuversicht machten sich in mir breit.


Ich fühlte mich unfassbar beschwingt und befreit, da ich wußte ich konnte die tägliche Verantwortung für einen längeren, sogar festgesetzten, und somit berechenbaren Zeitraum abgeben. Es war, als hätte ich "Urlaub vom meinem Leben".


Und dennoch bahnten sich die Verhaltensmuster der Co - Abhängigkeit ganz automatisch wieder ihren Weg. Ich legte mich so gut ich konnte ins Zeug, um T.´s Zweifel aus dem Weg zu räumen, um ihm meinen Optimismus überzustülpen, ihm zu vermitteln wie wichtig die Therapie für ihn sei, ihm zu versichern, daß er sich keine Sorgen machen müsse, und daß ich ganz bestimmt auf ihn warten würde.


Ich dachte wieder einmal es sei meine Aufgabe, alles in meiner Macht stehende zu tun, ihm diesen Schritt so leicht, wie nur möglich zu machen.


Ich versuchte ihn aufzubauen, und ihm alles abzunehmen was ihn belasten könnte, anstatt mich endlich einmal um mich zu kümmern. Die Frage nach meinen Ängsten und Zweifeln stellte sich wie gewohnt nicht, und ich nahm das wie üblich so hin.


Ich besorgte einen neuen Wasserkocher für zu Hause und einen für die Badehütte, um Tee als Getränk - Alternative anzubieten, und kaufte sämtliche Limonaden und Saftschorlen - Varianten ein, die der Getränkemarkt zu bieten hatte. Im Zuge dessen machte ich mich daran, jeden noch so kleinen Alkoholvorrat im Haus, der Garage und dem Garten ausfindig zu machen, und direkt zu vernichten.


Ich entsorgte sogar Mundwasser, das Sterilium und einige homöopathische Tropfen aus der Hausapotheke. Ich hatte das Gefühl die Lage wieder in den Griff zu bekommen, und genoß die Gewissheit, daß den Alltag der Kinder und mir, während der kommenden Zeit kein Rückfall erschüttern konnte.


Wir hatten viel Besuch und ich lebte spontan in den Tag. Meine Energie kehrte zurück und ich stand oft früh morgens auf, um noch vor dem Frühstück am See laufen zu gehen. Egal wie sehr ich T. vermisste, liebte ich diesen neu gewonnen Frieden, der für mich lange Zeit keine Normalität mehr gewesen war. Von heute auf morgen konnte ich durchatmen, war ich in der Lage, mich wieder zu entspannen und hatte die Garantie, daß ich T. im Laufe des Tages nicht irgendwo betrunken aufgabeln, etwas vertuschen, mich beschimpfen lassen, eine Situation retten mußte, oder er mir etwas Schönes verderben konnte.


Klingelte mein Telefon, kamen nicht sofort beklemmende Gedanken, das möglicherweise wieder etwas passiert sein konnte.


Ich genoß es, überraschende Besuche meiner Freundinnen nicht, mit an den Haaren herbeigezogenen Ausreden, abwenden zu müssen. Genauso wenig hatte ich zu befürchten, daß vielleicht eine weitere schlaflose Nacht vor mir liegen könnte. Und dennoch fuhr ich, sobald es mir möglich war, über das Wochenende in den Schwarzwald um T. zu besuchen. Trotz allem was geschehen war, liebte und vermisste ich ihn unglaublich. Außerdem war ich in meiner Rolle als "tapfere und aufopfernde" Co - Abhängige nach wie vor davon überzeugt, daß sei selbstverständlich und das Mindeste, das ich jetzt, da er sich immerhin ( freiwillig ) einer Therapie unterzog, für ihn tun konnte.


Ich schrieb es mir nach wie vor auf die Fahnen zu „funktionieren“...



Während ich diese Zeile schrieb, habe ich eine Pause eingelegt, mir einen Kaffee gemacht, mich auf das Sofa gesetzt und T. angerufen. Ich habe ihn gefragt, was seine Gedanken, seine Absicht, was seine Einstellung war, als er damals diese Therapie begonnen hatte, die nicht die erste, und auch nicht die letzte war. Ich wollte ihm nichts unterstellen, und seine Einschätzung aus heutiger Sicht hören. Er bestätigte mich in meiner Vermutung. Er sagte, daß er damals nach wie vor davon überzeugt war, seinen Alkoholkonsum kontrollieren zu können. Er sagte, er hatte sich vorgenommen mitzuspielen, alles in Ordnung zu bringen, und wenn sich die Wogen geglättet hätten, wieder zu trinken.




"Whatever you do, never run back to what broke you."


Frank Ocean



Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia











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