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Julia Maria Kessler

Der berühmte Tropfen...

Die Sommerferien der Kinder stehen wieder einmal vor der Tür und erinnern mich daran, wie unglücklich, verfahren, und abgrundtief vergeblich sich meine Realität noch vor nicht allzu langer Zeit an-, und wie emotional leer und ausgebrannt ich mich fühlte.




Das erste Jahr unseres neuen ( gemeinsamen ) Geschäfts neigte sich nun langsam dem Ende zu, und die Sommerferien der Kinder standen vor der Tür. T. hatte sich wieder einmal ganz gut gefangen, aber ich war abgekämpft, erschöpft, fühlte mich leer, verunsichert und traurig. Es war einfach alles zu viel, und ich war schlichtweg am Ende meiner Kräfte.


Es ging mir zu diesem Zeitpunkt so schlecht, daß ich beschloß mir ebenfalls professionelle Hilfe zu suchen, und einen Termin bei T.´s behandelndem Arzt vereinbarte.


Er begleitete ihn nun seit längerer Zeit als Suchtexperte und leitete die Gesprächsgruppe, die T. wöchentlich besuchte. Er ist Professor, eine sogenannte Koryphäe, er kannte T. als Patient, arbeitete seit vielen Jahren mit Alkoholikern und anderen Suchtkranken und erschien mir somit, als allerbester Arzt und Ratgeber in meiner, mir ausweglos erscheinenden Situation.


Es kostete mich viel Überwindung einzugestehen, daß ich mit alldem nicht mehr klar kam. Es war hart für mich, an diesem Punkt „Schwäche“ zu zeigen, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen, um dieses Mal einen Termin für mich zu vereinbaren.


Aber ich wußte, daß es allerhöchste Zeit war zu handeln, endlich etwas zu unternehmen. Da ich mittlerweile mit meinem Latein am Ende war, erschien es mir naheliegend, jemanden um Rat zu fragen, der Experte auf dem Gebiet Alkoholismus ist.


Doch ehrlich gesagt, hätte ich mir den Besuch in der Praxis sparen können, ja sogar sparen sollen, denn das Einzige, was ich nach dem Beratungsgespräch mit nach Hause nahm, war ein Rezept für Antidepressiva.


Ich frage mich heute wie es sein kann, daß ein Arzt einem Co - Abhängigen, der völlig nachvollziehbar am Ende seiner Kräfte angelangt ist, einfach nur ein Medikament verschreiben kann, daß ihn weiterhin funktionieren lässt? Soll das die Antwort sein? Und wie lange soll so etwas gut gehen?


Als Co - Abhängiger ist man ja ohnehin Meister im Verdrängen, Funktionieren und Vertuschen, unübertroffen darin, sich selber etwas vorzumachen. Wird das an einem Punkt, wo man endlich spürt, daß es so nicht mehr weitergehen kann, künstlich mit Pillen am Laufen gehalten, stelle ich mir die Frage, wo das im Idealfall hinführen soll?


Ich für meinen Teil habe keine befriedigende Antwort darauf gefunden, denn der Co - Abhängige ist ja am Ende, weil der Alkoholiker nach wie vor trinkt, der Alkohol mehr und mehr, Schluck für Schluck die Kontrolle über das Leben übernimmt, und sich die zerstörerischen Folgen wie Angst, Scham und Isolation, wie ein düsterer Schatten über alle Lebensbereiche legen. Daran werden, dem Partner verabreichte Antidepressiva, wohl kaum etwas ändern.


Vielmehr hätte man mir die Krankheit Alkoholismus erklären sollen, genau wie die Co - Abhängigkeit und die unabdingbare Notwendigkeit, diesen tödlichen Kreislauf zu durchbrechen, um das Suchtsystem zu stoppen.


Schließlich handelte es sich bei mir, wie bei allen Co -Abhängigen nicht um eine, nicht nachvollziehbare gedrückte Stimmung, einen unerklärbaren verminderten Antrieb, sondern um eine völlig logische Reaktion auf das Leben mit einem alkoholkranken Menschen, der weit davon entfernt ist, vor dem Alkohol zu kapitulieren.


Ich war über Pillen als „Lösung“ zwar schon damals irritiert und etwas enttäuscht, stellte dieses Vorgehen zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht in Frage.


Eine Stunde lang über meine Ängste, meine Gefühle und unsere schwierige Situation zu sprechen hat mir meine restliche Energie geraubt, und ich fühlte mich extrem ausgelaugt. Zudem war die Zeit meines Termins abgelaufen und der Professor reichte mir die Hand, um mich zu verabschieden. Es fiel tatsächlich kein einziges Wort über Co - Abhängigkeit.


Wie ferngesteuert besorgte ich brav die verschriebenen Tabletten in der Apotheke, und versuchte nun, mich auf unsere bevorstehenden Ferien zu freuen.


Wir hatten vor, an den Kalterer See nach Südtirol zu fahren und ich hoffte, daß uns allen der Tapetenwechsel gut tun würde. Und genau so war es auch. Wir wohnten in einem kleinen gemütlichen Landgasthof mit einem herrlichem Ausblick über die wunderschöne Landschaft. Dieser entschleunigte Ort war ideal, um wieder Kraft zu tanken. Die Jungs liebten den Pool, die dicken Katzen im Garten, genossen es ein Zimmer für sich alleine zu haben, plünderten jeden Morgen die Nutella Vorräte auf dem Frühstücksbüffet und hatten sichtlich ihren Spaß. T. hatte eine sehr gute Phase, und kümmerte sich zur Abwechslung einmal um mich.


Er war richtig fürsorglich, liebevoll und geduldig, und sein Atem roch nicht mehr alkoholgetränkt. Sein Blick war wieder klar.


Ich spürte, wie es mir von Tag zu Tag besser ging und ich fand die Verbindung zu mir, langsam aber sicher wieder.


Nach einer Woche meldete sich zum Glück meine innere Stimme ziemlich laut und deutlich zu Wort, ich hörte auf sie, und warf die Tabletten weg.


Wir hatten eine richtig schöne Zeit in Südtirol, lieferten uns mit den Jungs unerbitterliche Kämpfe auf den vielen Minigolfplätzen, fuhren Tretboot, aßen Eis, machten Arschbomben, dösten nach dem Mittagessen faul in der Sonne, und T. zeigte uns einige Schauplätze der Familienurlaube seiner Kindheit. Wir fuhren in die Therme nach Meran und die Jungs sprangen unermüdlich von Becken zu Becken.


Einen Tag verbrachten wir in Verona, wo wir natürlich auch Julias Balkon besuchten. Man erreicht den Hof der „Casa di Giulietta“ über einen dunklen, kühlen Torbogen, dessen Wände über und über mit Zetteln voller Liebesschwüre von verliebten Menschen gepflastert sind.


Ich fragte mich, welche berührenden, lustigen, traurigen und schönen Geschichten, welche Gesichter und Schicksale, sich hinter den Namen aus aller Welt verbargen, als wir den Innenhof der Kulisse von Shakespeares Tragödie betraten. Der Jüngste in unserem Bunde wollte unbedingt mit mir auf den berühmten Balkon gehen, und natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Als T. uns beide oben angelangt erblickte, rief er laut und mit sehr tiefer Stimme:


„Oh Juuuulia, meine Juuuliaaaa…“, und dann: „die hat ja schon ein Kind!“, und spielte nun, wie er sich, ob dieser Enttäuschung äußerst eindrucksvoll einen Dolch ins Herz rammt, um dann röchelnd zu Boden zu stürzen. Wie irritiert manch anderer schirmbemützter, Bauchwimmerl tragender Tourist sein dramatisches Schauspiel beobachtete, ließ ihn völlig unbeeindruckt. Die Jungs lachten sich kaputt und ich wußte wieder einmal mehr, warum ich T. so sehr liebte.


Braun gebrannt und erholt nahmen wir die gute Energie mit nach Hause und glücklicherweise verlief auch das restliche Jahr ohne größere Zwischenfälle.


Wir nahmen unsere Arbeit wieder auf, und alles spielte sich zusehends besser ein. Nach einem erfolgreichen Weihnachtsgeschäft verbrachten wir bei uns zu Hause einen der schönsten und lustigsten Heilig Abende aller Zeiten, an dem wir mit Familie und Freunden bis sechs Uhr morgens am Kamin zusammen saßen und Tränen lachten. Meine Mutter war da, mein Exmann und seine neuen Freundin, deren Tochter, unsere Nachbarn, ein alter Freund von T., mein Schwägerin und mein Schwager, und zwei meiner besten Freundinnen. Der Christbaum war der prachtvollste, den wir je hatten und die Atmosphäre hätte nicht schöner sein können. Die ganze Anspannung der letzten Monate begann langsam von mir abzufallen, und ich freute mich zudem unendlich auf unseren bevorstehenden Urlaub. Wir hatten geplant über Silvester mit den Jungs nach Orlando zu fliegen, um mit ihnen die Universal Studios zu besuchen. Es war für die Kinder die erste Reise in die USA, was natürlich sehr aufregend war und die ohnehin gute Stimmung, noch zusätzlich steigerte. Die Feiertage vergingen wie im Handumdrehen, und schon saßen wir im Flugzeug. Allein die Filmauswahl eines Langstreckenflugs löste bei den Kindern große Begeisterung aus.


Wir waren alle gut drauf und entspannt, und wirkten sicherlich auf jeden Fremden wie eine glückliche, unbeschwerte Familie.


In Florida angekommen stürzten wir uns direkt ins Vergnügen. Wir staunten über den Kontrast von kitschigen Weihnachtsbäumen aus Plastik, neben Flamingos und mit Lichterketten umwickelten Palmen, fuhren mit den wildesten Achterbahnen, aßen riesige Portionen Chicken Wings, ließen uns von Dinosauriern im Jurassic Park erschrecken, kauften auf Harry Potters Spuren Zauberstäbe in der „Winkelgasse“ und machten einen Ausflug nach Miami. Alle Probleme und Sorgen waren in weite Ferne gerückt, und es schien, als hätten wir die gefährlichsten Stromschnellen erfolgreich umschifft, um nun endlich in ruhigeren Gefilden unterwegs zu sein. Es stellte sich eine wunderbare Normalität ein, die sich nach unserer Ankunft zu Hause vermeintlich fortzuführen schien.


Allerdings war das Einzige, was T. zu dieser Zeit für seine Nüchternheit tat, der wöchentliche Besuch seiner Gesprächsgruppe, die von seinem behandelnden Arzt geleitet wurde. Heute würde ich das Ganze mehr als einen Alibitermin bezeichnen, denn T. befasste sich auch dort nicht ansatzweise mit seinen tiefsitzenden Ängsten, oder seiner seelischen Genesung. Er hatte sein Ego noch immer nicht in die Knie gezwungen, sondern war insgeheim nach wie vor davon überzeugt, er könne dem Alkohol die Stirn bieten, und hätte das Trinken im Griff, wenn er wollte.


T. war weit davon entfernt demütig zu sein und suchte immer noch etwas in der Flasche, was er dort niemals finden würde. Er besuchte die Meetings teilweise sogar alkoholisiert, was scheinbar niemandem auffiel, oder zumindest keine Konsequenzen für ihn hatte, und... er wußte ganz genau, was sein Arzt oder die jeweiligen Therapeuten hören wollten.


Mich beruhigte es damals trotz aller Skepsis zu wissen, daß sein Arzt ihn regelmäßig zu Gesicht bekam, und ich verließ mich einfach darauf, daß dieser Alarm schlagen würde, wenn es notwendig war. Das neue Jahr verging ohne größere Zwischenfälle, und endlich war der Sommer da. Wir hatten eine gute Phase, und verbrachten viel Zeit mit meinen engsten Freunden, zu denen die Verbundenheit durch ihre riesengroße Unterstützung in den schwierigen Zeiten größer war, denn je. Wir waren in jeder freien Sekunde am See, aalten uns in der Sonne, paddelten mit dem SUP hinaus, aßen Steckerlfisch, und hatten jede Mange Spaß zusammen. Wir liebten es mit dem Tretboot zu einem, in der Nähe gelegenen, herrlich altmodischen Strandbad zu fahren, um dort unter gelben Sonnenschirmen, und zwischen vielen alten Damen im geblümten Badeanzügen, den köstlichen hausgemachten Käsekuchen zu geniessen. T. redete wieder verstärkt über unsere Hochzeit, die er sich so sehr wünschte und wir waren an einem Punkt, an dem ich, nach allem was passiert war, wieder daran glauben konnte, daß wir es schaffen würden, zusammen glücklich zu sein. T. konnte sich zu der Zeit über viele gute Aufträge freuen, und es ging uns unterm Strich gesehen, so gut wie lange nicht mehr.


Doch wie sooft, kippte sein stabil wirkender Zustand meistens dann, wenn ich am allerwenigsten damit rechnete, ich gerade wieder Vertrauen gefunden, und angefangen hatte, mich zu entspannen.


Eines nachmittags, als ich mit Freunden an der Hütte saß, sah ich ihn von weitem kommen, und mir schwante nichts Gutes. Er ließ seinen Kopf und die Schultern hängen, fuhr sich übertrieben oft durch die Haare, und hatte sichtlich Schwierigkeiten, den relativ schmalen Holzsteg gerade entlang zu laufen.


Als er näher kam, erkannte ich den Blick, den ich so sehr fürchtete, weil er alles sagte. Er wirkte orientierungslos, starrte ins Leere, um mich unerwartet durchdringend und irritiert anzusehen, als sei er soeben aus dem Schlaf hochgeschreckt, um sich daraufhin wieder in der Leere zu verlieren.


Ich fühlte mich machtlos, kämpfte mit den Tränen, und mir fehlten die Worte. Ihm nicht. Sein erstes Wort saß wie ein spitzer Pfeil, der ins Schwarze trifft. Seine warmherzige, liebevolle Persönlichkeit war durch den Alkohol verändert. Wie immer. Er fand die wunden Punkte. Wie immer. Es war jedes Mal, als stünde ein völlig Fremder vor mir. Es gab keinen Zweifel, er hatte wieder getrunken.


Da war er wieder: der Schlag in die Magengrube. Jedes Mal stürzte für mich erneut eine Welt zusammen. Und dann, nach einem weiteren schwerem Rückfall, war der berühmte Moment, in dem das Faß überläuft, gekommen. Der Moment, indem man sich nicht mehr von Konsequenzen einschüchtern oder gar abhalten läßt, sondern intuitiv und spontan handelt.


Ich bat T. auszuziehen, da die Situation nicht mehr tragbar war.



Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia







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