Von einem Moment zum anderen zieht es Dir den Boden unter den Füßen weg. Es trifft Dich wie ein unerwarteter Schlag auf den Rücken. Aus dem Hinterhalt. Es fühlt sich an wie überfallen und niedergeprügelt zu werden. Ein Tritt in die Magengrube, Du stolperst, Du stürzt, Dir stockt der Atem, Du krümmst Dich vor Trauer. Dem ersten Schock folgt die Ohnmacht, und der Ohnmacht folgt die Panik. Plötzlich spürst Du die Tränen auf Deiner Haut, wie sie heiß, und in Strömen über Deine Wangen laufen, schmeckst das Salz, wenn sie sich an Deinen Lippen sammeln, und Du bist Dir sicher, daß dieser Schmerz nie wieder aufhören wird.
Wenn ein Mensch den Du liebst, Alkoholiker ist, ist für Dich als Co - Abhängiger die Hoffnung, daß er es eines Tages schaffen wird, endgültig vor dem Alkohol zu kapitulieren, und seine Nüchternheit zu erlangen, der Anker, an dem Du Dich klammerst. Ich tat das sogar noch dann, als T. und ich schon längst getrennt lebten, und ich davon überzeugt war, ich hätte mich komplett aus der Co - Abhängigkeit befreit. Nach allen Dramen, Niederlagen und dem Trennungsschmerz fühlte ich mich stark, über alle Seiten der Krankheit aufgeklärt, und war mir sicher alles, was T. und seine Alkoholsucht anging, so verstanden und im Griff zu haben, daß es mich nicht mehr zum Straucheln bringen konnte. Wir lebten und arbeiteten nicht mehr zusammen, und unsere Beziehung hatte aktuell den Status einer sehr tiefen Freundschaft. T. gab sich überzeugt, daß er es in absehbarer Zeit endgültig schaffen würde seine Nüchternheit zu erlangen. Er wollte mich nach wie vor heiraten, wußte aber, daß selbst eine Beziehung ohne Trauschein keine Option für mich war, solange er trank und sein Leben nicht in den Griff bekam.
Tief in mir glaubte ich zwar nicht mehr wirklich an diese Happy End Version unserer Liebe, aber ich war auch noch nicht im Stande, sie endgültig zu begraben.
Also tolerierte, oder ignorierte ich, daß, trotz aller riesengroßer Fortschritte, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gemacht hatte, und wie bewußt ich mir über das selbstzerstörerische Verhalten meiner
Co - Abhängigkeit in der Vergangenheit war, ein Funken in mir weiterlebte, der nach wie vor still und leise hoffte. Was ich komplett unterschätzt habe, ist die ungeheure Gewalt und Kraft, die dieses glühende Fünkchen besitzt. Es ist alles gut, solange es auf einem nicht entflammbaren Untergrund liegt, aber wehe, diese winzige Glut fällt auf einen trockenen Heuboden. Dieser mit dem Auge kaum zu erfassende Winzling vermag dann in Null Komma Nichts, ein riesengroßes, loderndes Feuer der Zerstörung zu entfachen. Ich war mir dessen nicht bewußt.
Ich unterschätzte die große Gefahr, die das Aufbewahren jeder noch so kleinen Hoffnung birgt, kolossal.
Denn wenn der Moment gekommen ist, da sich ein Mensch den Du liebst, phasenweise in jemanden verwandelt, wegen dem Passanten wahrscheinlich die Strassenseite wechseln würden, tut das unendlich weh.
Wenn Dir dieser einst so vertraute Mensch von Typen erzählt, wegen denen Du ganz sicher die Strassenseite wechseln würdest, macht es Dich sprachlos.
Und es spielt keine Rolle, ob Du noch ein Paar bist, und unter einem Dach lebst, oder nicht. Die grenzenlose Traurigkeit, die es in Dir anrichtet, ist die Gleiche. T. war an den Folgen seines Alkoholkonsums fast gestorben, und diesen Schmerz konnte ich kaum ertragen. Man möchte ihn um alles in der Welt ausschalten, möchte den Film, der im Kopf läuft stoppen, oder noch besser: komplett löschen!
Man möchte den anderen anbrüllen und schütteln, damit er dem Alkohol endlich ein für alle Mal in den Arsch tritt, bevor es zu spät ist!
T.´s letzter Absturz, katapultierte ihn für mich in die Liga der verlorenen Seelen. Das war der Moment, als der letzte mikrokleine Rest meiner Hoffnung gestorben ist. Dabei ging es aber gar nicht mehr um das „Wir“. Das „Wir“ war für mich schon länger ausgelöscht. Ich fürchtete nicht, daß wir nicht mehr zusammenfinden würden, sondern dabei zusehen zu müssen, wie er vor die Hunde geht. Unwürdig und alleine, und im schlimmsten Fall auf der Strasse.
Er war jetzt scheinbar angekommen. An dem absoluten Tiefpunkt, von dem immer alle sprechen.
Er hatte nichts mehr, und war von einem selbstbestimmten, erfüllten und trockenem Leben so weit entfernt, daß sein trauriges Ende plötzlich zum Greifen nah schien. Rolf Bollmann, ein mittlerweile seit 27 Jahren trockener Alkoholiker, der nach einer 35 Jahre andauernden "Trinkerkarriere" mit ca. fünfzig Jahren durch den Alkohol auch alles verloren hatte, was ihm lieb und teuer war, an den Folgen seines Trinkens beinahe gestorben wäre, und schließlich pleite, allein und am Ende war, sagte mir, daß genau hier tatsächlich die Chance für einen Alkoholiker liegt: am Tiefpunkt. Er erklärte weiter, daß es für diesen Tiefpunkt keine allgemein gültige Definition gäbe. Es kann die Gosse, die Gesundheit, ein Selbstmordversuch, der Verlust des Jobs, oder des privaten Umfelds sein.
Rolf, der es sich seit seiner Umkehr zur Lebensaufgabe gemacht hat, Alkoholkranke auf ihrem Weg zur Nüchternheit zu unterstützen, erklärte mir, daß es leider bei den meisten Betroffenen soweit kommt, bis sie es schaffen, sich endgültig vom Alkohol zu lösen, beziehungsweise, sie selber endlich den aufrichtigen Wunsch verspüren, sich wirklich lösen zu wollen!
Der Alkohol hat eine so übermächtige Gewalt über den Kranken, daß der Prozeß vom riskanten Trinken, über den Missbrauch, bishin zur chronischen Abhängigkeit zehn bis zwanzig Jahre andauern kann. Vom Zeitpunkt, da Alkohol beginnt Probleme zu schaffen, Blackouts, Stürze, Streit, finanziellen Ruin, Autounfälle und den Verlust des privaten Umfelds verursacht, bishin zur aufrichtigen Umkehr, liegen ebenfalls meist viele Jahre des Leids. Rolf erlebte in seiner Beratung nicht wenige Alkoholiker, die sogar die Aussicht eines baldigen Todes dem Verzicht auf ihren Stoff vorzogen. Er erklärte, daß es für den Alkoholiker nur einen Weg gäbe: er/sie muß den Geist des Alkohols durch einen anderen Geist, der ihr/ihm Glaube, Vertrauen und Selbstliebe schenkt, ersetzen, und seiner Nüchternheit fortan täglich die oberste Priorität schenken: "Spiritus contra Spiritum!"
Und Rolf erklärte weiter, daß man als Angehöriger auch nur eine einzige Möglichkeit hat, mit dieser Krankheit umzugehen: in Liebe loslassen, und den möglichen Tod akzeptieren.
Er betonte, daß man als Co - Abhängiger dringend aufhören muß etwas beeinflussen zu wollen, daß man nun einmal nicht beeinflussen kann. Rolf wiederholte noch einmal, daß solange der Alkoholiker nicht den aufrichtigen Wunsch verspürt sich vom Alkohol zu lösen, sie/ihn mit wirklich allen Konsequenzen loszulassen, leider Gottes der einzige Weg ist. Und zwar für alle Betroffenen! Das ist nicht das, was man hören möchte. Es brach mir das Herz. Und tatsächlich durchlebte ich vier, der 5 Phasen der Trauer:
Das Leugnen
Der Zorn
Die Depression
Die Akzeptanz
Die Phase des Verhandelns stellte sich nicht ein. Vielleicht, weil ich mich irgendwie schon jahrelang in ihr befunden hatte.
Als das passierte, ging es mir gerade wieder ziemlich gut. T. hatte schon lange keinen Anteil mehr an meinem Alltag. Ich lebte ein Single Leben und verbrachte viel Zeit mit meinen Kindern und meinen Freundinnen. Ich war erleichtert und stolz, das Schlimmste überstanden zu haben, und ahnte nicht, daß das die größte Herausforderung von allen leider noch vor mir lag.
Heute weiß ich, daß man sich zu keinem Zeitpunkt sicher fühlen kann, solange man einen Menschen, der noch vom Alkohol gesteuert wird, liebt, und die Verbindung nicht wirklich gelöst hat. Denn egal wie klein der Berührungspunkt auch ist, vermag er Dich, wenn die Sucht wieder gnadenlos zuschlägt, emotional mit in den Abgrund zu reißen, und zwar schneller, als Du fliehen kannst. Es gibt aus meiner Erfahrung tatsächlich nur einen Weg dem zu entgehen:
akzeptieren und loslassen, und zwar ganz!
Byebye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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